HomeFeuilleton„Ignatius Dullfeet, ruh in Frieden!“

„Ignatius Dullfeet, ruh in Frieden!“

Gastautor: Gerhard Oberkofler, geb. 1941, Dr. phil., Universitätsprofessor i.R. für Geschichte an der Universität Innsbruck

Bertolt Brecht hat die „Omnipotenz der Geschichtsschreiber“ angeprangert, weil sie für ihn tui waren, „korrumpiert durch polizeizensur und geschmackszensur des ‚freien marktes‘ “. In seiner szenischen Darstellung „Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui“ verknüpft Brecht Handlungen von Gangstern mit der Praxis der Nazis. Das Aufeinanderprallen von Arturo Ui (d. i. Adolf Hitler) aus Chicago (Deutschland) mit Ignatius Dullfeet (d i. Engelbert Dollfuß) aus Cicero (Österreich) erhält eine diese „Gangsterhistorie“ kennzeichnende Bedeutung. Ui beherrscht als Inhaber des großen Karfiol-Trusts, der stellvertretend für die Kriegsindustrie im Ruhrgebiete steht, die internen Konkurrenzen. Der Depp Roma, d. i. Ernst Röhm, wird mit seinen Anhängern von Ui mit Unterstützung von Giri, d. i. Hermann Göring, liquidiert. Ui strebt für seinen Trust nach Machterweiterung. Der bestochene Gastwirt Dogsborough ist Präsident Paul von Hindenburg, Steigbügelhalter Clark ist mit seinen Verbindungen zu Geldgebern aus der Industrie und zur Kirche der Diplomat Franz von Papen, Givola als Gemüseverkäufer ist der Propagandist Joseph Goebbels.

Dullfeet, an dessen Grünzeug-Firma Ui in Cicero interessiert ist, habe, so Ui, sein „warmes Freundschaftsangebot nur für Berechnung“ gehalten. Ui: „Schweigen war die Antwort. / Wenn ich auf freudiges Einverständnis hoffte, / Und wie hab ich gehofft, auf meine ständigen / Fast schon erniedrigenden Bitten um Freundschaft / Oder auch nur um billiges Verständnis / Ein Zeichen menschlicher Wärme zu entdecken! / Ich hoffte da umsonst! Nur grimmige Verachtung / Schlug mir entgegen!“ Nach der notwendig gewordenen Ermordung von Dullfeet ist Ui sicher, dass ihm in Cicero „ein freudiges ‚Ja!‘“ erwarten kann. Ui weiss die Antwort auf die Frage „wer ist für mich?“: „Und wie ich nebenbei / Erwähnen will: Wer das nicht für mich ist / Ist gegen mich und wird für diese Haltung / Die Folgen selbst sich zuzuschreiben haben. / Jetzt könnt ihr wählen!“ So denkt der ihm geistesverwandte Dullfeet auch. Das Vehikel von Ui für sein Wirken ist die „Zeitung“, „Die Presse“, er weiss aber, dass das, was gedruckt wird, vom „Bankbuch“ abhängt: „Denn nicht die Tat zählt, sondern nur der Einfluß / Und der hängt wieder ab von meinem Bankbuch.“ (Ui). 

Brecht hat dieses Stück in Finnland vor seiner Emigration in die USA und vor dem Überfall von Deutschland auf die Sowjetunion im April 1941 fertiggestellt. Er hat es dann liegen gelassen und es ist zu seinen Lebzeiten nicht aufgeführt worden. Erst 1958 wurde das Stück uraufgeführt (Stuttgart), für das Berliner Ensemble gehörte es seit 1959 zu den am häufigsten aufgeführten Stücken. In den Bemerkungen von Brecht heißt es, dass dieses Stück in der kapitalistischen Barbarei der Großstädte der USA angesiedelt ist: „Die großen politischen Verbrecher müssen durchaus preisgegeben werden, und vorzüglich der Lächerlichkeit. Denn sie sind vor allem keine großen politischen Verbrecher, sondern die Verüber großer politischer Verbrechen, was etwas ganz anderes ist“.

Die „Stimme des Pastors“ beim Begräbnis von Dullfeet im Mausoleum von Cicero, bei dem neben der souveränen Witwe Betty Dullfeet (Alwine Dollfuß) zu den Kondolierenden sich Ui mit einem Kranz gesellt hat, schloss mit den Worten:

„Der körperlich kleine, geistig große Mann
Schuf sich in seiner Zeitung eine Kanzel
Von der aus seine klare Stimme über
Die Stadtgrenze weit hinaus vernehmlich war.‚
Ignatius Dullfeet, ruh in Frieden! Amen!“

Brecht im Epilog:

„Ihr aber lernet, wie man sieht statt stiert 
Und handelt statt zu reden noch und noch.
So was hätt einmal fast die Welt regiert!
Die Völker wurden seiner Herr, jedoch
Daß keiner uns zu früh da triumphiert –
Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das
kroch!“ 

Nicht nur bei „linken“ Geschichtsinterpreten ist nachzulesen, dass der ehemalige Kaiserschütze Dollfuß am 15. März 1933 das Parlament ausschaltete und am 11. September 1933 sein Reformprogramm für die Republik Österreich deklarierte: „Die Zeit marxistischer Volksführung und Volksverführung ist vorüber! Die Zeit der Parteienherrschaft ist vorüber, wir lehnen Gleichschalterei und Terror ab, wir wollen den sozialen, christlichen deutschen Staat Österreich auf ständischer Grundlage unter starker, autoritärer Führung dieses Staates“. Vorausgegangen ist dieser ideologischen Offensive die Unterzeichnung des mit dem Vatikan abgeschlossenen Konkordats am 5. Juni 1933 durch den seit 1932 als Bundeskanzler amtierenden Dollfuß in Rom. Dort amtierte mit Papst Pius XI. von 1922 bis 1939 ein machtbewusster Ideologe der Herrschaft des Reichtums, der offen seine Sympathien für den Faschismus zum Ausdruck brachte. Er applaudierte Benito Mussolini, unterstützte den Überfall auf Äthiopien und den faschistischen Putsches von Francisco Franco, er ermunterte das Wohlwollen der katholischen Hierarchie gegenüber den von Victor Orbán als Ausnahmestaatsmann in die Erinnerung geholten Miklós Horthy in Ungarn, der den offen reaktionären Weg von Dollfuß unterstützte, oder gegenüber António de Oliveira Salazar in Portugal und den ultrareaktionären Diktatoren von Lateinamerika. Noch Augusto Pinochet konnte sich auf den Zuspruch der Kirchenleute aus dem Vatikan verlassen. Opus dei ließ sich auch angesichts der Ermordung und Folter tausender Menschen nicht von der Zelebration eines gemeinsamen Festliches Hochamtes mit Pinochet als Zeichen des Sieges über die chilenische Befreiungsbewegung abbringen. Es gehören diese und andere Namen zur geistigen Verwandtschaft von Dollfuß. Das Konkordat vom 20. Juni 1933 mit Adolf Hitler hat den deutschen Katholiken Rückhalt gegeben, an ihren weltlichen Führer als von der Vorsehung Gesandten zu glauben.

Dollfuß, dessen Katholizismus sich im Wesen vom Christentum abgewandt hat, orientierte sich auf eine Österreich angepasste faschistische Diktatur nach dem Vorbild des von ihm sehr verehrten und persönlich hofierten Mussolini. Seine Konkurrenten waren die vom große Arturo Ui im Nachbarland geführte nationalsozialistische Bewegung und die sozialdemokratische und kommunistische Arbeiterbewegung in Österreich. Ein Markstein auf dem Weg zur offen terroristischen Diktatur war das Verbot der Kommunistischen Partei (26. Mai 1933). Die sozialdemokratische Partei schaute mit ihrem üblen Opportunismus zu, wobei sie eigentlich wissen musste, dass es bald sie selbst treffen werde. Nach dem Jahreswechsel 1933/1934 wurde offenkundig, dass Dollfuß zum entscheidenden Schlag gegen die Arbeiterbewegung ausholen werde. Das von Heimwehr und Polizei vorbereitete Blutbad des 12. Februar 1934 mit seinen mörderischen Standgerichten steht für die abrufbare Praxis des bürgerlichen Humanismus in Österreich. Vorbild war Prälat Ignaz Seipel, der am 15. Juli 1927 zusammen mit dem Wiener Polizeipräsidenten Johannes Schober ein Blutbad vor dem Justizpalast verursacht hat. Am 1. Mai 1934 wurde die neue Verfassung verkündet, die das Recht nicht mehr vom Volk ausgehen ließ, wie es in der Verfassung von 1920 niedergeschrieben ist, sondern in seiner Präambel Gott als Quelle allen Rechts angab. Wie der angenommene „Gott“ oder wie das „Volk“ interpretiert wird, hängt nicht von den „Unabhängigkeit“ der Verfassungsjuristen, sondern von den jeweiligen Herrschaftsverhältnissen ab.

An die beiden Scharfrichter Seipel und Dollfuß knüpfte die Österreichische Volkspartei nach 1945 bis in die Gegenwart herauf an, auch wenn Leopold Figl vorgab, dass das Österreich von morgen „ein neues, ein revolutionäres Österreich sein“ werde. Solche Österreichfiktionen mussten auch nach 1945 misslingen, weil grundlegende gesellschaftliche Veränderungen wegen der Beibehaltung der alten Eigentumsverhältnisse nicht möglich waren. Schon fünf Jahre später war für Figl der Oktoberstreik 1950 ein kommunistischer Putsch, der mit dem nationalsozialistischen Putschversuch von 1934 vergleichbar sei. Bürgerliche Interessen folgen immer denselben Mustern wie das österreichische Volk der Gegenwart zur Kenntnis nehmen muss.

Engelbert Dollfuß wurde im Einvernehmen mit Adolf Hitler – er war gerade in Bayreuth bei einer „Rheingold“ Aufführung – im Wiener Kanzleramt ermordet (25. Juli 1934). Aber muss Dollfuß deswegen mit einem eigenen Museum oder mit einem besonderen Grabpflege geehrt werden? Dollfuß wurde wie Seipel in der Krypta der Christkönigskirche im 15. Wiener Gemeindebezirk bestattet. Nach der deutschen Besetzung von Wien wurden 1938 die Särge von Seipel und Dollfuß entfernt, Seipel erhielt ein Ehrengrab auf dem Wiener Zentralfriedhof, der Sarg von Dollfuß wurde auf dem Hietzinger Friedhof hinterlegt, wobei nach 1945 das Bundeskanzleramt die Kosten der Grabpflege bis heute übernommen hat. Nach Aufhebung des Standrechtes am 21. Februar 1934 schreibt Sigmund Freud an seinen Sohn Ernst: „Unsere Regierung und unser Kardinal erwarten viel von Gottes Hilfe“. Für die Befreiung und Humanisierung der Gesellschaft bringt diese frömmelnde Erwartung, wie wir wissen, gar nichts. 

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