HomeFeuilletonGeschichteVergessene Tiroler Arbeiteraktivisten: Johann Coufal (1848-1898) und Alois Treibenreif (Jg. 1836).

Vergessene Tiroler Arbeiteraktivisten: Johann Coufal (1848–1898) und Alois Treibenreif (Jg. 1836).

Überlegungen zur weiteren Erforschung von Biographien von frühen Tiroler und Vorarlberger Sozialisten und Sozialistinnen

Gastautor: Peter Goller, geb. 1961, Univ.-Doz. Dr. und Archivar an der Universität Innsbruck

Die Arbeiteraktivisten aus den ersten Anfängen der Tiroler Sozialdemokratie im Anschluss an den Neudörfler Parteitag 1874 wie der Kleidermacher Franz Reisch – vor seinem Weggang nach Tirol 1874 internationalistisch geschulter Delegierter der Welser Arbeiter in Neudörfl, der Schneidergeselle Hermann Prager, der zuvor in Graz aktive Maler Hermann Wanke, der 1875 aus Wiener Neustadt zugezogene Schuhmachergehilfe Franz Loy oder Karl Beck[1] spielen in der geschichtlichen Erinnerung der Tiroler und Vorarlberger sozialistischen Bewegung keine Rolle.[2]

Aus den institutionellen Gründerjahren der Tiroler Sozialdemokratie nach dem ersten Landesparteitag in Telfs 1890 ist allenfalls Josef Holzhammer als (zunehmend) reformistisch handelnder „Nestor“ der Tiroler Arbeiterbewegung am Rande diffus im kollektiven Gedächtnis verankert.[3]

Kämpferische Aktivisten wie der Mitbegründer der „Volks-Zeitung“ Ignaz Saska, der Anfang der 1880er Jahre aus Böhmen nach Tirol zugewanderte Schuster und „gefährliche Socialistenagitator“ Eduard Protiva – er war maßgeblicher Organisator der ersten Tiroler „1.Mai“-Demonstrationen 1890, Josef Gleinsler,[4] Josef Prachensky,[5] der (Südbahn-) Schlossergeselle Ignaz Leimgruber, Michael Zelger[6] oder Hermann Flöckinger[7], Johann Filzer,[8] Coloman Markart, Michael Heinzelmann, der Tirol Ende 1893 verlässt, die Eisenbahngewerkschaftler Johann Amos und Simon Ladstätter[9], der aus dem Schlesischen zugewanderte Karl Schiedeck[10] und unauflistbar viele andere mehr scheinen allenfalls noch in historischer Spezialliteratur auf, die zudem seit Ende der 1980er Jahre immer seltener wird. Wer weiß (noch) etwas über nur sporadisch, eigentlich nur zufällig für einen Moment aufblitzende, dabei faktisch anonym bleibende Tiroler Sozialdemokraten wie die Wörgler Schuhmachergehilfen Michael Seyr und Josef Prader, die Ende 1892 aus der Arbeit entlassen worden waren, nachdem sie die erste Wörgler Arbeiterversammlung einberufen hatten?[11] Was ist noch bekannt über Sozialisten der frühen 1890er Jahre wie Johann Brandtner, den Kleidermachergewerkschaftler Johann Matzinger, den Kitzbühler Georg Tesar, den Meraner Gewerkschaftler Lindig, oft nicht einmal der Vorname? Reinhard Mittersteiner hat für seine systematisch umfassende Darstellung der Vorarlberger sozialdemokratischen Arbeiterbewegung 1994 (S. 380–398) eine umfangreiche Liste der Partei- und Gewerkschaftskader erstellt. Manche/r, der/die dort bisher nur schattenhaft skizziert werden kann, würde es verdient haben, wenn er/sie künftig mit mehr geschichtlicher Kontur aufscheinen könnte.

Ignaz Saska, am 26. Februar 1858 zu Hötting geboren, ärmliche Verhältnisse verhinderten den Besuch der Volkschule, begab sich als Textilarbeiter auf Wanderschaft in die Schweiz und nach Deutschland. 1884 heimgekehrt schloss er sich dem Innsbrucker Arbeiterverein an: „Am 7. Februar 1886 gründete Genosse Saska den Verein ‚Frohsinn‘ und schon am 17. Juni desselben Jahres wurde er anläßlich einer bei der Monatsversammlung dieses Vereins gehaltenen Rede wegen angeblichen Hochverraths verhaftet. Nach zehntägiger Untersuchungshaft wurde er wieder auf freien Fuß gesetzt.“ Saska kolportierte in Tirol mit Erfolg die von Victor Adler gegründete „Gleichheit“. An der Jahreswende 1888/89 nahm er mit Holzhammer am Hainfelder Einigungsparteitag teil und war in jener Periode um den Parteitag in Telfs 1890 wohl der maßgebliche Parteiaktivist: „Auf dem letzten Wiener Parteitag wurde er in die Reichsparteileitung gewählt. Der internationale Socialisten-Congress in Zürich [1893] war von den Tiroler Genossen durch ihn vertreten.“ Saska war Hauptinitiator der am 10. Dezember 1892 erstmals erscheinenden „Volks-Zeitung“, die er mit Unterbrechungen als Redakteur, Herausgeber, Eigentümer leitete: „Genosse Saska war längere Zeit hindurch Mitglied der Landespartei-Vertretung, Obmann des politischen Volksvereines und des Textil-Arbeiter-Fachvereines in Innsbruck.“ Zu dem nichtkirchlichen Begräbnis strömten ca. 2000 Arbeiter und Arbeiterinnen. Es wurde so zu einer politischen Demonstration! [12]

Johann Coufal

Johann Coufal (gestorben am 13. Juli 1898)[13]hat ein Proletarierdasein in des Wortes wahrster Bedeutung geführt. Geboren im Jahre 1848 am 14. Mai in T(i)eschetitz in Mähren, kam er schon als junger Bursche nach Wien, wo er die Tischlerei erlernte. Von da begann für ihn jenes unstäte, unsichere Leben, welches ein Privileg jener unglücklichen Volksschichten ist, welche man unter dem Namen industrielles Proletariat zusammenfaßt. Nachdem uns Aufzeichnungen über sein früheres Leben nicht zur Verfügung stehen, da er früher unserer Bewegung ferne stand, ja als Mitglied eines Gesellenvereins im Lager unserer Gegner wirkte, so beziehen wir unsere Schilderungen selbstverständlich nur auf einen kurzen Abschnitt seines Lebens. Daß er auch ein eifriges Mitglied des Gesellenvereins war, so lange seine Ueberzeugung ihn nicht abstieß, beweist seine ziemlich ausgebreitete Kenntniß der Kirchengeschichte, welche ihm nachher im Kampfe gegen die Pfaffenherrschaft so vorzügliche Dienste leistete. Im Jahr 1885 kam Coufal nach Innsbruck und hier kam er auch zum erstenmale in den Allgem. Arbeiterverein. Jedoch nach kurzem Aufenthalt verließ er wieder Innsbruck und kam in die Schweiz, wo er abermals dem Gesellenvereine als Mitglied angehörte.

Erst im Jahre 1891, wo Coufal wieder nach Innsbruck zurück kam, schloß er sich endgiltig der socialdemokratischen Partei an und war seit dieser Zeit ein energischer und unerschrockener Kämpfer in unseren Reihen. Von dieser Zeit datirt auch der Haß der Clerisei, der ihn bis in den Tod, ja noch darüber hinaus verfolgt. Vom Jahre 1891 bis zu seinem in Dornbirn erfolgten Tode hat er Tirol und Vorarlberg nicht mehr verlassen und war er während dieser Jahre in verschiedenen Vertrauensstellen thätig. So war er z.B. in Meran Verwalter der Speisegesellschaft und vom 1. Juli 1893 bis 1. September 1894 Redacteur der während dieser Zeit in Dornbirn erscheinenden ‚Volkszeitung‘, deren Mitarbeiter er bis kurz vor seinem Tode blieb. Nebstdem war er als Redner in Volks- und Vereinsversammlungen allerorts thätig, trotzdem sein Brustleiden sich schon in sehr Besorgniß erregender Weise bemerkbar machte. Auch der staatlichen Versorgung hinter Kerkermauern wurde er zweimal, und zwar im Jahre 1893 für 14 Tage Arrest mit vorhergehender vierwöchentlicher Untersuchungshaft und wegen eines Preßdelictes im October 1894 für 3 Monate und 3 Tage theilhaftig.“ (VZ 29.7.1898)

Gemeinsam mit Ignaz Leimgruber hat Coufal ab 1892/93 die Vorarlberger sozialdemokratischen und gewerkschaftlichen Organisationen in zahlreichen Veranstaltungen, Agitationstouren so gestärkt, dass er den Hass des katholisch konservativen Bürgertums, des lokalen Klerus auf sich zog. In Reaktion auf den (vorübergehenden) Aufschwung der Vorarlberger sozialistischen Arbeiterbewegung wurden – ideologisch gestützt auf die Sozialenzyklika „Rerum novarum“ – christlichsoziale Arbeitervereine gegründet, um der „roten Gefahr“ entgegen zu treten, nicht zuletzt aber auch um die Arbeiterbewegung nachhaltig zu spalten.

Johann Coufal hat jedenfalls schon 1890 dazu beigetragen, dass die erste Demonstration des 1. Mai als Arbeiterfeiertag in den wenigen Zentren der Tiroler Arbeiterbewegung im Raum Innsbruck-Hall, in Bozen und in Meran zu einem mobilisierenden Erfolg wurde. Coufal sprach in Meran am 1. Mai 1890 vor rund 250 Arbeitern, zumeist Gewerbegehilfen zum Achtstundentag, zur Abschaffung der Akkordarbeit, zu den Forderungen der im Vorjahr 1889 in Paris neu errichteten Sozialistischen Arbeiterinternationale.[14]

Ende Februar 1894 wurde Coufal vom katholischen „Vorarlberger Volksblatt“ mit Blick auf seine Vergangenheit in katholischen Gesellenvereinen (Kolping) in der Weise diffamiert, dass er sich dem späteren Wiener Kardinal und Erzbischof Anton Josef Gruscha angeboten habe, um eine Stelle als Sekretär des katholischen Gesellenvereins in Wien zu ergattern. Er habe damals auch gegen seine nunmehrigen Genossen publiziert. (Vorarlberger Volksblatt 27.2.1894)

Coufal wurde in seinen letzten Lebensjahren zum Hassobjekt der Klerikalen. Im Juni 1893 wurde er nach einem Auftritt vor Arbeitern in Götzis nicht nur verbal beleidigt, sondern nach der vom Regierungskommissär aufgelösten Versammlung von katholischen „Casinern“, Angehörigen einer „Congregation“, auch physisch bedroht: „Ortspfarrer Josef Othmar Rudigier beschimpfte Coufal als ‚Trottel und hergelaufenen Schreinergesellen‘ Zum ersten Punkt [dem Wert von Arbeiterkoalitionen – Anm.] referirte Genosse Coufal und wurde während seiner Rede vom Regierungsvertreter dreimal unterbrochen, und als er dann bei der Forderung des freien Versammlungs- und Coalitionsrechtes der Arbeiter das Vorgehen mancher Behörden bei Streiks oder Versammlungen kritisirte, entzog ihm der Regierungsvertreter das Wort. Nach Coufal meldete sich Pfarrer Rudigier zum Worte. Dieser Redner hielt sich aber nicht an die Tagesordnung, sondern schimpfte über die gottverfluchten Juden, welche alles Kapital besäßen und allein die Ausbeuter seien, ein Christ könne nicht Ausbeuter sein; lobte die Päpste und die Klöster, welche so viel Gutes thun, donnerte gegen die große französische Revolution, und kam zu dem Schlusse, daß die französische Revolution der Menschheit welchen Nutzen gebracht habe, könne nur ein Trottel den Trotteln erzählen. (…) Die Versammlung wurde vom Regierungs-Commissär aufgelöst, auf der Straße würde der Referent ohne das Eingreifen der Gendarmerie und seiner Freunde von dem fanatischen Pöbel sicher erschlagen worden sein. Wie schon oben gesagt, ist das Ländchen von Grund aus aufgewühlt. Dazu hilft in erster Linie die fanatische Geistlichkeit. Von der Kanzel tönt höchst selten das Wort Gottes, sondern haßerfüllte Rede gegen die Sozialdemokratie. (…) Ferner hilft diese Erregung schüren die verlogene Schundpresse der Clericalen. Es vergeht kein einziger Tag, wo im ‚Vorarlb. Volksblatt‘, dieser Cloake der Gemeinheit, nicht in gehässigster über die Sozialdemokratie gelogen, verläumdet, denunzirt, und der Inhalt der in den Versammlungen gehaltenen Reden entstellt und verdreht wird, in der Absicht, das Volk gegen die Sozialdemokratie aufzuhetzen.

In den Volksversammlungen erscheinen die geistlichen Herren und ergreifen das Wort, sie schildern auch oft noch lebhafter als wir das Elend des arbeitenden Volkes, sie treten auch für viele Forderungen der Sozialdemokratie ein, dann aber kommen sie mit dem Christenthum und der Encyklika des Papstes Leo XIII. über die Arbeiterfrage; sie erzählen uns wie die Kirche, diese Mutter der Armen, ein warmfühlendes Herz für die Arbeiter habe, wie sie allein im Stande sei, alle sozialen Gegensätze auszugleichen, nur müssen wir uns gedulden bis die menschliche Gesellschaft wieder zum Christenthum zurückgekehrt sei, denn, so behaupten sie, nur auf der Grundlage des Christenthums kann die soziale Frage gelöst werden.

Wäre es der Kirche ernst, uns zu helfen, so müßte sie und ihre Anhänger in den parlamentarischen Vertretungskörpern dafür mit aller Macht eintreten, daß die allgemeine Bildung des Volkes fortschreite, daß allen Menschen die Errungenschaften des Wissens, der Forschung, der Kultur zugänglich gemacht werden, daß dem Volke politische Freiheit gegeben werde, denn nur freie gebildete Menschen werden einen allen Menschen zuträglichen Gesellschafszustand herbeiführen.“ (VZ 10.6.1893)

Johann Coufal wurde behördlich überwacht und wiederholt angeklagt, inhaftiert, wobei die Länge der Coufals Gesundheit schädigenden Untersuchungshaft in keinem Verhältnis zu den dann gerichtlich verhängten Strafen stand. Schlussendlich erwies sich die sozialdemokratische Organisation gegen das dichte bürgerlich katholische Netz als nicht stark genug, sodass bereits einzelne individuelle Ausfälle von hochverdienten Arbeiterkämpfern – Coufal erkrankte bald, Leimgruber scheiterte 1895/96 diskreditiert an seinen Geschäften als Handelsagent – zur Krise, zur defensiven Flaute der Bewegung führten.

Im Sommer 1893 wurde Johann Coufal nach fast vierwöchiger Untersuchungshaft von einem Richtersenat in Feldkirch zu 14 Tagen Arrest und zur Tragung der Prozesskosten verurteilt. Die Volkszeitung gibt am 22. Juli 1893 die Anklageschrift von Staatsanwalt Max Sander wider: „Die k.k. Staatsanwaltschaft hier erhebt vor dem k.k. Kreisgerichte daselbst, als dem gemäß der §§ 13 und 51 StPO zuständigen Gerichtshofe I. Instanz gegen Johann Coufal, 46 Jahre alt, lediger Tischlergehilfe von Teschetitz, Bezirkshauptmannschaft Olmütz in Mähren, des Lesens und Schreibens kundig, vermögenslos, einmal wegen Uebertretung des Vereinsgesetzes vorbestraft (1868) die Anklage, derselbe habe dadurch:

  1. Daß er in der von ihm in der Versammlung des politischen Vereins für Vorarlberg am 4. Juni d. Js. im Gasthause zum ‚Engel‘ in Götzis gehaltenen Rede durch die öffentlich und vor vielen Leuten vorgebrachte schmähende Auslassung: ‚dass die Lage nicht besser werde, bis der Arbeiter die Mitglieder des Reichsrathes, welche heute alle bezahlte Creaturen (oder dergleichen) seien, beseitigt habe, – bis wir den Reichsrath zum Teufel jagen‘, – den Reichsrath namentlich ohne Anführung bestimmter Thatsachen der verächtlichen Eigenschaften der Charakter- und Gesinnungslosigkeit und Untauglichkeit zieh, sowie dem öffentlichen Spotte aussetzte, und
  2. daß er am 11. Juni d.J. in Bregenz wiederholt öffentlich und vor vielen Leuten zu den unsittlichen und durch die Gesetze verbotenen Handlungen, welche den Inbegriff der Ziele der internationalen revolutionären Sozialdemokratie bilden, aneiferte und dieselben anpries, indem er: a) seine bei dem Gartenfeste des Arbeiter-Bildungs-Vereines in Bregenz im dortigen Bavariakeller gehaltene Rede mit dem Toaste schloß: ‚Es lebe die internationale revolutionäre Sozialdemokratie!‘ und b) Abends vor dem Bahnhofe die zum Gartenfeste erschienenen auswärtigen Vereine mit dem Zurufe verabschiedete: ‚Die Sozialisten und Revolutionäre leben hoch, hoch, hoch!‘

ad I. Die Uebertretung gegen die Sicherheit der Ehre im Sinne des § 491 StG und des Art. V des Ges. vom 17. Dezember 1862, Nr. 8 RGBl. s. 1863 und

ad II. Das Vergehen gegen die öffentliche Ruhe und Ordnung im Sinne des § 305 StG begangen, wofür die Strafe mit Berücksichtigung der Vorschrift des § 267 nach § 305 StG einzutreten hat.

Gründe: Im heurigen Frühjahre wurde Vorarlberg fast plötzlich der Tummelplatz einer lebhaften sozialdemokratischen Agitation, welche durch auswärtige Emissäre, worunter sich besonders der Beschuldigte hervorthat, betrieben wird.

In den verschiedensten Orten des Landes folgten sich Versammlungen auf Versammlungen, in welchen die Agitatoren ihre bekannten bald mehr bald weniger provokatorischen Tiraden vom Stapel ließen.

Als ein besonders eifriger Rufer bewährte sich dabei der Beschuldigte, nicht jedoch ohne beinahe immer das Maß des Zuläßigen zu überschreiten und den wahren Charakter der Agitation durch das von ihm und seiner staatsfeindlichen Partei beliebte Hoch auf die internationale revolutionäre Sozialdemokratie, womit er seine Perorationen zu schließen pflegt, zu verrathen. Ein solches Hoch wiederum bei dem Gartenfeste des Bregenzer Arbeiterbildungsvereines am 11. v.Mts. ausgebracht zu haben, ist der Beschuldigte geständig, wenn er auch versucht, dem Toaste die strafbare Spitze zu nehmen, was ihm aber nichts nützen kann, da die Strafbarkeit des Toastes in dessen Wortlaut und in der notorischen Thatsache gelegen ist, daß die Bestrebungen und Endziele der Sozialdemokratie auf den Umsturz der bestehenden staatlichen und gesellschaftlichen Ordnung gerichtet sind.

Ebenso ist der Beschuldigte geständig, in der Versammlung des ‚politischen Vereines für Vorarlberg‘ am 4. Juni d.Js. in Götzis die Thätigkeit des Reichsrathes abfällig kritisirt und die Aeußerung gethan zu haben, das Volk solle den Reichsrath zum Teufel jagen.

Hingegen leugnet der Beschuldigte das Factum ad IIb, beziehungsweise seine diesbezügliche Thäterschaft, welche jedoch durch eine Anzahl von Augen- und Ohrenzeugen, sowie durch seinen speciellen Hang zu derlei Lebehochs außer Zweifel gestellt ist. Die erhobene Anklage ist demnach gerechtfertigt.“

Ende März 1894 wurde die Redaktion der vorübergehend in Dornbirn erscheinenden „Volks-Zeitung“ neuerlich durchsucht, eine weitere Nummer zur Gänze konfisziert. Am 30. März 1894 „erschienen in der Redaction die Herren Staatsanwalt Sander und der Untersuchungsrichter Kelz in Begleitung von 2 Gendarmen und wiesen dem Redacteur Coufal einen Hausdurchsuchungsbefehl vor und suchten nach Manuscripten. Nachdem sie mehreres mitnahmen, wurde vom Herrn Untersuchungsrichter ein Protokoll aufgenommen. Dann wurde Gen. Coufal das Gelöbnis abgenommen, dass er ohne Wissen des Gerichtes Dornbirn nicht verlasse, unter dieser Bedingung bleibt er auf freiem Fuße, – denn die Staatsanwaltschaft hat gegen ihn die Voruntersuchung wegen der Vergehen im Sinne der §§ 300, 302, 303, 491, 492, 493, und Art. V d. Gesetzes vom 17. Dezember 1862 beantragt. Am 5. April brachte der Kerkermeister des Bezirksgerichtes Dornbirn dem Gen. Coufal eine Vorladung vor den Untersuchungsrichter in Feldkirch zu einer Vernehmung, in das Spital, wo Genosse Coufal gegenwärtig in ärztlicher Pflege sich befindet, da sich sein Gesundheitszustand erheblich verschlimmert hatte.“

Tage später wurde der neben Coufal entscheidende Vorarlberger Sozialist Ignaz Leimgruber verhaftet, mit dem Ziel, die Bewegung politisch zu schwächen, zu demoralisieren und zu isolieren: „Am 25. Mai [1894] fand die Hauptverhandlung vor dem Kreisgerichtshofe in Feldkirch gegen Gen. Leimgruber wegen Verbrechens der Majestätsbeleidigung statt. Leimgruber wurde (…) verhaftet und nach 8wöchentlicher Untersuchungshaft zur Kerkerhaft in der Dauer von 3 Monaten, verschärft durch monatlich einen Fasttag, verurtheilt. (…) Am Montag den 11. Juni [1894] beginnt die Schwurgerichtsverhandlung gegen den Redacteur Genossen Coufal beim Kreisgerichte in Feldkirch. Die Anklage lautet auf Verbrechen der Majestätsbeleidigung, Verbrechen der Störung der öffentlichen Ruhe und Ordnung und Vergehen nach §§ 300, 302 und 303 des Strafgesetzes, begangen durch die Presse.“ (VZ 9. Juni 1894)

Im Juli 1894 wird Coufal in Feldkirch mit dem Genossen Martin Fußenegger „wegen Uebertretung des § 10 des Pressgesetzes ersterer zu 15 fl. und Genosse Fußenegger zu 10 fl. verurtheilt“. Ende 1894 tritt Coufal neuerlich eine Haftstrafe an: „Als Genosse Coufal im Juni d. J. vor den Geschworenen in Feldkirch stand, donnerte der Herr Staatsanwalt, um der Anklage wenigstens irgendeine Basis zu geben, gegen die fremden socialistischen Hetzer, welche das arbeitende Volk in Vorarlberg, das in den denkbar günstigen Verhältnissen lebt, aufhetzen und unzufrieden machen.“

Johann Coufal hat sich offenbar seit den späten 1880er Jahren ein umfangreiches sozialistisches Theoriewissen angeeignet. Aus einem Vereinsbericht des Bregenzer Arbeiterfortbildungsverein ist etwa bekannt, dass die seit 1883 bei Dietz erscheinende, auf Initiative von Friedrich Engels entstandene „Neue Zeit“ abonniert wurde. (VZ 28.1.1893) Einem Abwehrbericht aus christlichsozialen Kreisen heraus ist zu entnehmen, dass August Bebels „Die Frau und der Sozialismus“ auch in Vorarlberg stark zirkulierte. Mit dem Hinweis auf Bebel wollten die Klerikalen beweisen, dass die Sozialdemokratie „religionsfeindlich“ ist. Coufal antwortete am 24. Juni in der „Volks-Zeitung“ u.a. auch mit dem Hinweis auf den Umgang der Kirche mit Kopernikus oder Galilei, aber auch mit Hinweis auf ihre lange Ausbeutungstradition. Die Sozialdemokratie machte sich die bürgerlich liberale Position „Religion ist Privatsache!“ zur eigenen: „Darauf können wir dem Organe der Dümmsten [gemeint das ‚Vorarlberger Volksblatt‘ – Anm.] antworten, daß dem wirklich so ist, die Sozialdemokratie bekämpft die Religion nicht, diese Arbeit überlassen wir der Wissenschaft; Naturforscher und Philosophen mögen sich mit den Theologen herumbalgen nach Herzenslust. Am Ende des neunzehnten Jahrhunderts, in der Zeit des Dampfes, der Elektrizität, könnte uns nicht einfallen, die Albernheit zu begehen, sich mit theologischen Spitzfindigkeiten zu befassen, es wäre schade um jede Minute. Wer in unsere Reihen tritt, den fragen wir nicht nach seinem Bekenntnisse, jeder möge es mit sich selbst ausmachen, wie er seinem Schöpfer dienen will. Wir verlangen nur, daß er mit uns kämpft für die Befreiung des arbeitenden Volkes, für die höchsten Güter der Menschheit, für Freiheit, Gleichheit und für das geistige und materielle Wohl aller Menschen. Kann ein Mensch dem Schöpfer besser dienen, als wenn er für Freiheit, für Fortschritt und das Wohl der Mitmenschen kämpft? Die Sozialdemokratie steht allerdings auf dem Boden der exakten Wissenschaft, aber sie achtet die religiöse Überzeugung der andern, sie verlangt diese Achtung aber auch für sich.

Am 13. Dezember 1894 findet sich in der „Volks-Zeitung“ die Ankündigung, dass die Arbeiter in verschiedenen Vorträgen über Karl „Marx’ Oekonomische Lehren und über die Hauptforderung des Parteiprogramms, Uebernahme des Grund und Bodens, der Productions- und Verkehrsmittel durch die Gesellschaft“ geschult werden sollen. Neben Marx und Engels wurde vor allem die Erinnerung an Ferdinand Lassalle hochgehalten. So fand am 27. August 1893 die jährliche, auch von den Vorarlberger Arbeitervereinen organisierte Lassalle-Feier statt. Coufal konnte wegen einer seiner Arreststrafen nicht teilnehmen: „Hierauf hielt Genosse Leimgruber die Festrede, in welcher er die unsterblichen Verdienste Ferdinand Lassalles um die Arbeiterklasse hervorhob und in seine einstündige Rede eine kurze Biografie des Gefeierten einflocht.“ (VZ 9.9.1893)

Aus Agitationsberichten geht hervor, dass Coufal Karl Marx‘ „Kapital“ studiert hat, in welchem Umfang ist nicht bekannt, möglicherweise ging er nach Karl Kautskys weit verbreiteter, erstmals 1887 aufgelegter gemeinverständlicher Darstellung von „Karl Marx‘ ökonomischen Lehren“ vor. Coufal berief sich auch Friedrich Engels‘ „Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft“, jene 1880 ursprünglich für die französischen Arbeiter verfasste Broschüre, die von Karl Marx als „Einführung in den wissenschaftlichen Sozialismus“ bezeichnet worden war.

Mitte Mai 1893 – auf dem Zenit des sozialdemokratischen Agitationserfolges – gelang es einer von Ignaz Leimgruber und Johann Coufal angeführten sozialdemokratischen Arbeitergruppe eine von katholischen Geistlichen einberufene Volksversammlung zu majorisieren: „Gen. Coufal ergriff das Wort, um den Referenten [einen Kaplan – Anm.] zu ergänzen und manche irrige Behauptungen desselben [über die Lage des Kleingewerbes, der Bauern, den vermeintlichen Wert der Sozialenzyklika ‚Rerum Novarum‘ – Anm.] zu widerlegen. Er führte aus, wie Friedrich Engels in seiner Schrift ‚Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft‘ trefflich sagt: ‚Die materialistische Philosophie geht von dem Satze aus, daß die Produktion und nächst der Produktion der Austausch ihrer Produkte die Grundlage aller Gesellschaftsordnung ist; daß in jeder geschichtlich auftretenden Gesellschaft die Vertheilung der Produkte und mit ihr die soziale Gliederung in Klassen oder Stände sich darnach richtet, was und wie produzirt, und wie das Produkt ausgetauscht wird. Hiernach sind die letzten Ursachen aller gesellschaftlichen Veränderungen und politischen Umwälzungen zu suchen, nicht in den Köpfen der Menschen, in ihrer zunehmenden Einsicht in die ewige Wahrheit und Gerechtigkeit, sondern in Veränderungen der Produktions- und Austauschweise; sie sind zu suchen nicht in der Philosophie, sondern in der Ökonomie der betreffenden Epoche.‘ Die bestehende Gesellschaftsordnung ist geschaffen worden von der jetzt herrschenden Klasse, der Bourgeoisie. Die der Bourgeoisie eigenthümliche Produktionsweise, die kapitalistische, war un[v]erträglich mit den lokalen und ständischen Privilegien der feudalen Ordnung und stellte auf ihren Trümmern die bürgerliche Gesellschaftsordnung her, mit der freien Konkurrenz, der Freizügigkeit, der Gleichberechtigung der Kapitalisten usw. Unter der Leitung der Bourgeoisie entwickelten sich die Produktivverhältnisse, seit der Dampf und die neue Werkzeugmaschine die alte Manufaktur in die moderne große Industrie verwandelt, in bisher unerhörtem Maßstab. Die neuen Produktionskräfte sind der bürgerlichen Form ihrer Ausnutzung über den Kopf gewachsen. Der Konflikt zwischen Produktivkräften und Produktionsweise besteht objektiv außer uns unabhängig vom Wollen selbst derjenigen, die ihn herbeigeführt. Der Sozialismus ist weiter nichts als der Gedankenreflex dieses Konflikts, seine Rückspiegelung in den Köpfen der Arbeiterklasse, die direkt unter ihm leidet.

Die zersplitterten, engen Produktionsmittel des Handwerks und der Manufaktur zu konzentriren, auszuweiten, sie in die mächtig wirkenden Hebel der Gegenwart umzuwandeln, war gerade die historische Rolle der kapitalistischen Productionsweise und ihrer Trägerin, der Bourgeoisie. Wie sie dies seit dem 15. Jahrhundert auf den drei Stufen der einfachen Kooperation, der Manufaktur und der großen Industrie durchgeführt. (Siehe Marx ‚Kapital‘, IV. Abschnitt).

Im mittelalterlichen Kleinhandwerk bestand das Eigenthum am Producte auf eigener Arbeit. Der einzelne Produzent hatte es in der Regel aus ihm gehörenden Rohstoff mit eigenen Arbeitsmitteln, mit eigener Hausarbeit oder der seiner Familie hergestellt, er brauchte es sich erst nicht anzueignen, es gehörte ihm ganz von selbst. Der zünftige Geselle und Lehrling arbeitete weniger des Lohnes willen als vielmehr sich auszubilden, sich auf den Meisterberuf vorzubereiten.

Da kam die Konzentration der Arbeitsmittel in großen Werkstätten und Manufakturen, ihre Verwandlung in gesellschaftliche Produktionsmittel. Hatte bisher der Besitzer der Arbeitsmittel sich das Produkt angeeignet, weil es in der Regel sein eigenes Produkt war, so fuhr jetzt der Besitzer der Arbeitsmittel (in der Manufaktur und Großindustrie) fort, sich das Product anzueignen, obwohl es nicht mehr sein Product war,

sondern das Product ausschließlich fremder Arbeit; so wurden nun die gesellschaftlich erzeugten Producte angeeignet nicht von denen, die die Productionsmittel wirklich in Bewegung setzen und die Produkte wirklich erzeugt hatten, sondern vom Kapitalisten. Das ist der Konflikt zwischen gesellschaftlicher Produktion und kapitalistischer Aneignung. Der Arbeiter ist getrennt von den Arbeitsmitteln und von seinem Product, das ist die Quelle der sozialen Frage, der Proletarier ist dazu verdammt, ewig Proletarier zu bleiben.“ (VZ 10.6.1893)

Coufal, der in durchaus pathetischer Manier immer wieder die „Lehre Christi“ dem ausbeuterischen Verhalten der Kirchenfürsten gegenüberstellte, besaß auch großes historisches Wissen. Nachweislich hat er Wilhelm Zimmermanns „Bauernkrieg“ gelesen und für seine Rededuelle mit Kaplänen, Kooperatoren und Pfarrern benützt. Das konservative Spektrum Vorarlbergs ging ab Mitte 1893 mit zahlreichen katholischen (Arbeiter-) Vereinsgründungen gegen die aufstrebende Sozialdemokratie, gegen die „rothen Soci“ vor. Katholische Geistliche agitieren scharf gegen Johann Coufal, der etwa Lügen über den klerikal adeligen Güterraub an den Kleinbauern im Mittelalter nicht belegen könne. Der belesene Coufal antwortet mit Wilhelm Zimmermanns „allgemeiner Geschichte des Bauernkriegs“ (1841–1843), von Friedrich Engels 1850 für seinen „deutschen Bauernkrieg“ benützt. Zimmermann lag Coufal offenbar nach der Ausgabe von Wilhelm Blos, Verlag J.H.W. Dietz Stuttgart 1891, vor: „Aber [Kaplan] Ender hausirt auf allen Versammlungen mit der Lüge, daß Coufal bis heute noch nicht in der Lage war, die ihm vom Caplan Ender versprochenen 100 fl. zu verdienen, wenn derselbe im Stande sein wird, für seine in Rankweil bei einer Volksversammlung vorgebrachte Behauptung, daß die Geistlichkeit im Mittelalter Urkunden fälschte, wo die Rechte der Bauern verkürzt und die Pflichten gesteigert wurden‘, Beweise beizubringen. Wir haben schon in der Nr. 14 ‚Volks-Zeitung‘ vom 10. Juni, Zimmermann’s Geschichte des großen deutschen Bauernkrieges citirt, wo es auf Seite 15, 2. Cap. heißt: ‚Die Urkunden der im Allgäu gelegenen Abtei Kempten und die landschaftlichen Acten legen anschaulich dar, wie die Fürstäbte von Kempten durch ein Jahrhundert ihre Bauern aussaugten usw.‘ Dort wird auch Ender die Fälschung der Urkunden finden. Wozu hundert Gulden jemanden anbieten; Coufal kann die Acten doch nicht herbringen, Caplan Ender kann es viel billiger haben, wenn er selbst nach Kempten reist und sich den dortigen Archiven Gewißheit holt.“ (VZ 23.12.1893)

Kirchengeschichtliche Vergleiche hat Coufal immer wieder als rhetorische Figur benützt, so auch schon zu Jahresbeginn noch in Tirol, in Rattenberg Mitte Jänner 1893 agitierend, als er der anwesenden katholischen Geistlichkeit vorwarf, die Arbeiterbewegung in Richtung des christlichen Antisemitismus, eines „Sozialismus der dummen Kerle“ treiben zu wollen: „Coufal antwortet: ‚Ich habe ja nicht gesagt, dass die clericale Partei an den heutigen Zuständen, und an dem Börsenschwindel allein schuld sei, sie ist aber insofern schuldig, weil sie dieses System stützt. Meine Ausführungen geschichtlichen Inhalts halte ich vollständig aufrecht, ich habe nicht behauptet, daß Constantin nur deswegen ein Scheusal war, weil er sich mit der Kirche verbunden, sondern ich habe gesagt, daß es höchstbezeichnend für die Kirche von damals war, daß sie sich mit einem Kaiser, wie Constantin es war, verbinden konnte, daß der Vorredner allen Juden schlechten Charakter vorwirft , und sie aller Schlechtigkeit fähig hält, kann nicht auffallen, nachdem er sich als christlich-socialer Antisemit gezeigt, (…). Das Kapital und die Ausbeutung ist international und interconfessionell. Der Antisemitismus ist der Socialismus der Dummen.‘“ (VZ 28.1.1893)

Johann Coufal und Ignaz Leimgruber entfalteten in Vorarlberg 1893/94 eine unglaublich aktive Kampagne. Sie sprachen vor vielen Arbeitervereinen, verschiedenen gewerkschaftlichen Fachvereinen zum 1. Mai, zur Forderung des Achtstundentages. So sprach Leimgruber, der vor allem in der neu zu errichtenden Harder Ortsgruppe verankert war, am 1. Mai 1893 vor rund 120 Bregenzer und Dornbirner Genossen „und betonte, daß die Feier des 1. Mai vom Arbeiterstandpunkte aus vollkommen gerechtfertigt sei, es sei ein trauriges Zeichen, daß die Regierung die Schwachheit gehabt habe, diese Feier verbieten zu lassen. Redner bespricht den 8‑Stundentag, mahnt die Anwesenden zur Einigkeit, dann werde auch die Zeit nicht mehr ferne sein, wo man dies Ziel erreichen werde“. (VZ 13.5.1893)

Wiederholt wurden Maiaktivisten entlassen, so fand sich in der „Vorarlberger Landeszeitung“ 1895 folgende Anzeige zur Entlassung von Bregenzer Schustergesellen: „Schuhmachergehilfen gesucht zum sofortigen Eintritt von den unterzeichneten Meistern. Gleichzeitig bitten wir die geehrten Kunden bis zur Einstellung neuer Arbeitskräfte um gütige Nachsicht, da die ‚Maifeier die Entlassung mehrerer Gehilfen veranlaßte.“[15]

Auch Ignaz Leimgrubers Agitation wurde wiederholt strafrechtlich geahndet, so wird im Oktober 1893 vermeldet: „Genosse Leimgruber hatte in der Volksversammlung vom 9. Juli in Hard den Reichsrath und seine völkerbeglückende Thätigkeit kritisirt. Für dieses bekam er natürlich 8 Tage Arrest. Am 29. September hat er die Strafe angetreten und am 7. Oktober wurde er aus der Haft entlassen.“ (VZ 14.10.1893)

Die Vorarlberger Sozialdemokratie war mit häufiger Veranstaltungssabotage (Plakatabreißen, Saalabtreibereien, Versammlungsauflösungen durch anwesende Regierungskommissare) konfrontiert. Mit einer Anzeige Leimgrubers wollte etwa die Harder Gemeindebehörde die Gründung eines sozialdemokratischen Arbeitervereins verhindern: „Montag den 28. August [1893] wurde von Genossen Leimgruber in Hard eine Versammlung nach § 2 des VG einberufen, wo über die Gründung eines Arbeitervereines berathen wurde. Nachdem die Versammlung bereits geschlossen war, erschien der Ortsvorsteher in Begleitung eines Gemeinderathes, und verlangte Aufklärung über die Berechtigung der Versammlung, welche ihm Leimgruber bereitwillig ertheilte. Aber Bürgermeister Herr Schwärzler war damit noch nicht zufrieden und machte verschiedene Einwendungen und nahm die Zählung der Anwesenden vor und sprach die Drohung aus: ‚Ich werde euch schon zeigen‘ usw. Nun forderte Gen. Leimgruber den Ortspascha auf, da er nicht eingeladen ist, sich nunmehr zu entfernen. Der Bürgermeister erstattete Tags darauf bei der politischen Behörde in Bregenz eine Anzeige über eine angeblich ungesetzmäßig (?) abgehaltene Versammlung. Dies hatte zur Folge, daß ein Gendarm in Hard von Haus zu Haus gieng und nach den Theilnehmern fahndete und auch Genosse Leimgruber zu wiederholtenmale mit seinem Besuche beehrte und von ihm die Liste der Theilnehmer an der Versammlung forderte, welches Ansinnen Leimgruber mit Entschiedenheit zurückwieß. Genosse Leimgruber begab sich zum Polizeikommissär Herr Gran Ruaz und zum derzeitigen Leiter der Bezirkshauptmannschaft in Bregenz Graf Vetter und ersuchte um Aufklärung über diese sonderbaren ‚Erhebungen‘. Die politische Behörde erhob gegen Gen. Leimgruber die Anklage, daß er eine öffentliche (!) Versammlung einberufen habe, ohne dieselbe der Behörde angezeigt zu haben. Am 19. October fand die Verhandlung vor dem Bezirksgerichte in Bregenz gegen Leimgruber statt, bei welcher auch der Bürgermeister von Hard als Belastungszeuge erschienen war. Nachdem die Anklage als vollkommen grundlos erwiesen wurde, wurde Gen. Leimgruber freigesprochen.“ (VZ 28.10.1893)[16]

Johann Coufal sprach häufig – so Mitte Mai 1893 – die prekäre Lage der Kleingewerbetreibenden und Kleinbauern (Hypothekarschulden, unzulängliche Bauernbefreiung, Grundentlastung usw.), „die Lage des arbeitenden Volkes (Bauern, Kleingewerbetreibende und Lohnarbeiter) und die Forderungen der Sozialdemokratie“ an. Vor allem die Bauernagitation erwies sich für die Sozialdemokratie als schwieriges Pflaster: „Referent schilderte in zweistündiger Rede an der Hand der Geschichte die Entwicklung des heutigen Privateigenthums an Grund und Boden, die ursprüngliche Bodengemeinschaft der alten Deutschen, den Raub des Bodens durch Fürsten, Adel und die Kirche, die Leibeigenschaft, die Befreiung der Bauern durch die große französische Revolution und die Grundablösung, die gegenwärtige trostlose Lage des Bauernstandes, erweist an der Hand der Statistik den rapiden Niedergang desselben und die Unproduktivität des Kleinbetriebes in der Landwirthschaft, bespricht die amerikanische und die russische Getreidekonkurrenz, das Kreditwesen, den ungeheuren Steuerdruck, die Militärlasten, Hypothekarschulden etc. und kommt zum Schlusse, daß die Landwirthschaft nur möglich in der Zukunft, wenn Grund und Boden in den Besitz der Gesammtheit übergeht. Ebenso schildert der Redner das Handwerk des Mittelalters, die Manufaktur und die Entwicklung der Großindustrie, die heutige Lage des Handwerks, die Zwangsgenossenschaften und den Befähigungsnachweis und beweist, daß das Handwerk nicht zu retten ist, daß der Kleinbetrieb auf die Dauer neben der Großindustrie ebenso unhaltbar ist, wie der Kleinbetrieb der Landwirthschaft neben dem Großbetrieb des Großgrundbesitzes.

Dann schildert Referent die Lage der Arbeiterklasse, den zünftigen Gesellen des Mittelalters und dessen Entwicklung zum Proletarier, zum modernen Lohnarbeiter. Er schildert das Massenelend der Überproduktion, die Krisen, die immer zunehmende Arbeitslosigkeit und ihre Ursachen und Folgen, die Verelendung der Arbeiterklasse, die Zunahme des Laster und der Verbrechen, die Ausbeutungwuth, die Verblödung der herrschenden Klasse und die Unterdrückung und Verfolgung der organisirten Arbeiter durch die Bourgeoisie und die Bureaukratie, und geht dann auf die Forderungen der Sozialdemokratie über, begründet dieselben und sagt zum Schlusse: Die Sozialdemokratie ist die alleinige Partei aller ausgebeuteten, aller rechtlosen, aller unterdrückten Menschen, nicht nur der Lohnarbeiter, sondern auch der Kleinmeister, der Kleinbauern, sowie alle geistigen Proletarier müssen sich um die Fahne der Sozialdemokratie schaaren, zum Kampfe um die Freiheit und eine menschenwürdige Existenz aller Menschen.“ (VZ 10.6.1893)

Coufal und Leimgruber sprachen bis in den Herbst 1893 hinein über Wochen zur laufenden, nach der gescheiterten Taaffeschen Wahlrechtsreform abgebrochenen Kampagne der österreichischen Sozialdemokratie für das allgemeine, direkte und gleiche Wahlrecht. Mit Interesse beobachteten die Tiroler und Vorarlberger Genossen die entsprechende belgische Generalstreikbewegung. Debattiert wurde, ob die Wahlrechtsreform im Weg des Massenstreiks durchgesetzt werden könnte. Im Juli 1893 berichtet die „Volks-Zeitung“ von einer der unzähligen Wahlrechtsveranstaltungen. Am 2. Juli 1893 hat Ignaz Leimgruber in Bludenz gesprochen: „Der Saal zur ‚Krone‘ war zum Erdrücken voll. Wir glauben dem Pfarrer von Nüziders zum Dank verpflichtet zu sein für seine Reklame, denn derselbe hatte in der Predigt wieder einmal die Bibel mit dem Schimpfen auf die Sozialdemokratie vertauscht, hat aber nicht erreicht, was er erreichen wollte, denn trotz alledem waren die Bauern aus Nüziders sehr stark vertreten. Gen. Schall als Vorsitzender ertheilte dem Referenten Gen. Leimgruber das Wort. Leimgruber entwarf ein trauriges Bild der politischen Rechtlosigkeit des arbeitenden Volkes in Oesterreich. Redner geißelte das österreichische jeder Gerechtigkeit hohnsprechende Wahlsystem und die Wahlmacherei und sagte, daß nur ein auf Grundlage des allgemeinen, gleichen und directen Wahlrechts gewähltes Parlament mit Recht eine Volksvertretung genannt werden darf, und nur ein solches Volksparlament ist im Stande, die Freiheit des Volkes zu erweitern und zu sichern, wirthschaftliche Reformen durchzuführen, die Steuerlast gleich zu vertheilen, und Schutz den arbeitenden Schichten des Volkes zu gewähren. Er forderte die Versammelten auf, Schulter an Schulter mit der Sozialdemokratie für das allgemeine Wahlrecht einzutreten, denn erst dann wird das Volk Herr seines Schicksals sein. Ferner forderte er die Anwesenden zum Beitritte in den politischen Verein für Vorarlberg und zum Lesen der Arbeiterpresse auf, welche ihre Spalten allen Rechtlosen und Unterdrückten öffne. Stürmischer Beifall lohnte den Redner. Sofort erklärten Mehrere, dem politischen Verein beizutreten und die ‚Volks-Zeitung‘ zu abonniren und für deren Verbreitung zu sorgen. (…).“ (VZ 22.7.1893)[17]

Coufal und Leimgruber sprachen zum im Sommer 1893 in Zürich tagenden internationalen Sozialistenkongress in Zürich. In Zürich war – noch in Gegenwart von Friedrich Engels – beraten worden: 1. Maßregeln zur internationalen Durchführung des Achtstundentages; 2. gemeinsame Bestimmungen über die Maifeier; 3. die politische Taktik der Sozialdemokratie a) Parlamentarismus und Wahlagitation, b) direkte Gesetzgebung durch das Volk; 4. Stellung der Sozialdemokratie im Kriegsfalle; 5. Schutz der Arbeiterinnen; 6. Nationale und internationale Ausgestaltung der Gewerkschaften; 7. Internationale Organisation der Sozialdemokraten, weiters: Agrarfrage, Frage des Generalstreiks. Die aus Zürich zurückreisenden österreichischen Delegierten wurden u.a. in Innsbruck feierlich begrüßt.[18]

Coufal und Leimgruber warben intensiv für den Ende 1893 in Wien tagenden ersten österreichischen Gewerkschaftskongress: „Am Samstag den 9. [Dezember 1893] fand im Saale zur Krone eine von Genossen Leimgruber einberufene von ca. 200 Personen besuchte Arbeiterversammlung statt mit der Tagesordnung: Der Gewerkschaftscongreß in Wien. Das Präsidium setzte sich zusammen aus dem Genossen Kourimsky als Vorsitzender, Petrik als Stellvertreter und Scheurer als Schriftführer. Genosse Leimgruber bespricht in eingehender Weise die Nothwendigkeit und die Zwecke und Ziele des in den Tagen des 24., 25., 26. und eventuell 27 December in Wien stattfindenden Gewerkschaftscongresses. Redner betont besonders die österreichischen Verhältnisse, die Arbeiterschutzgesetze und die Hinfälligkeit des 11stündigen Normalarbeitstages. Die Reducirung der Fabrikarbeit auf einen nicht zu überschreitenden Normaltag, die Beseitigung der Kinder- und Einschränkung der Frauenarbeit ist eine der ersten Hauptbedingungen. Er unterzieht das heutige Krankencasse‑, Aerzte- und Arzneiwesen einer eingehenden Erörterung, die auffallende Zunahme der Krankheiten und Simulanten und die immense Ausdehnung der Lungentuberculose, der das gesammte arbeitende Proletariat fast ausschließlich zum Opfer fällt.

Das Recht auf Arbeit muß erkämpft und gewahrt werden. Die Arbeiter der verschiedenen Branchen, die sich bis jetzt fast ausschließlich in Localorganisationen zusammengeschaart, in ein großes Ganzes zu vereinen, um hierdurch einen festen allgemeinen Wall zu schaffen gegen die Ausbeutung und Unterdrückung des Volkes, das ist nunmehr die Aufgabe des Gewerkschaftscongresses!

Die Vertreter der verschiedenen Gewerkschaften sprachen sich in zustimmenden Sinne für den Congreß und legten dem Delegirten Gen. Leimgruber ihre speciellen Wünsche in betreff der jeweiligen Fachpresse, Einführung einer besseren gegenseitigen Reiseunterstützung aufs Herz. Die Abschaffung der Hausindustrie bei den Schneidern und Schuhmachern, die Einschränkung der Lehrlingsausbeutung und staatliche Ausbildung der Lehrlinge müsse durch festgeschlossene Organisationen zur Möglichkeit gemacht werden. Genosse Leimgruber berührt noch das Programm der christlich-socialen Partei und unterzieht dasselbe einer vernichtenden Kritik. Mit einer Aufforderung zum Anschlusse an die organisirte Arbeiterschaft schließt Gen. Kourimsky um 11 Uhr die Versammlung.“ (VZ 23.12.1893)[19]

Im März 1895 sprach der theoretisch versierte Johann Coufal in Bludenz über die Gefahren und Lasten des Militarismus, zur imperialistischen Kriegsgefahr. Der Militarismus der stehenden Heere dient aber auch nach innen zur Unterdrückung des Proletariats, zur Unterdrückung von Streiks: Coufal belegte, „dass die Richtschnur für die innere, sowie für die äußere Politik der modernen Culturstaaten nicht mehr wie früher ausschließlich das dynastische, sondern das Interesse der Bourgeoisie sei, infolgedessen auch unsere Kriege im Interesse der capitalistischen Bourgeoisie geführt werden. Redner schildert ausführlich, wie im Krimkriege Hunderttausende durch Schwert und pestartige Krankheiten den Heldentod starben in dem Wahne für ‚Gott, König und Vaterland‘ gekämpft zu haben, während dem sie in Wirklichkeit für das Interesse ihrer einheimischen Ausbeuter-Krämer und Capitalisten gekämpft haben, um die Russen, im Interesse der englischen, französischen und italienischen Geldsäcke von Constantinopel ferne zu halten. Redner erklärte noch die Colonialkriege, der Opiumkrieg, die ‚civilisatorischen‘ Kämpfe der Franzosen in Tonking, der Italiener und Deutschen in Afrika, welche im Interesse ihrer Capitalisten den Eingeborenen, Christentum, Syphilis und schlechten Schnaps bringen, und sie in das Joch des Capitals zwingen. Ferner wies der Redner nach, dass die stehenden Heere eine Institution sind, um einerseits der Bourgeoisie lästige Concurrenten auf dem Weltmarkt [vom] Leibe zu halten, neue Absatzgebiete für den Handel zu erobern, oder doch die alten zu behaupten und zu sichern, anderseits, um den ‚inneren Feind‘, das aufstrebende Proletariat im Zaume zu halten, wenn es ihm einmal einfiele sich gegen die Unterdrückung und Ausbeutung durch das Capital aufzulehnen. Ferner wies Redner darauf hin, wie die Bourgeoisie die Lasten des Militarismus auf das arbeitende Volk abwälzt. Nicht genug, dass sie den Arbeiter ausbeutet, sie zwingt ihn noch ihr Ausbeutungssystem mit der Waffe in der Hand zu vertheidigen. Der Militarismus ruiniere das Volk aber nicht nur wirtschaftlich, sondern auch physisch und moralisch. Redner beleuchtet dann die Culturfeindlichkeit des Militarismus und bezeichnete ihn als die stete Bedrohung des Friedens und als die höchste Gefahr für die Volksfreiheit, da die Armeen wie fremde Körper im Staate existieren, die Soldaten werden so gedrillt, dass sie sich nicht als Söhne des Volkes fühlen, und die Bürger als untergeordnete Wesen betrachten. Der Militarismus wirkt verrohend auf das Gemüth und Sitten, er ist ein Hohn auf die Civilisation und auf das Christenthum, welches Menschenliebe predigt und den Mord verdammt. Christliche Heere flehen zu einem und demselben Gott der Liebe und Barmherzigkeit um Sieg über den ‚Feind und stürzen sich wie wilde Bestien mit dem Rufe: ‚Für Gott, König und Vaterland!‘ auf einander, um sich gegenseitig zu morden und Felder und Städte zu verwüsten. Redner tritt für die Errichtung der Volksheere ein und beweist die Möglichkeit ihrer Errichtung mit dem Hinweis auf die Schweiz, die vereinigten Staaten von Nordamerika und Serbien. Freilich, der Capitalismus könnte kein Volksheer gebrauchen, das könnte zu Actionen, wie in Fuchsmühl [„Fuchsmühler Holzschlacht“], Ostrau etc. nicht verwendet werden. Redner konnte noch die Nothwendigkeit der Einführung von internationalen Schiedsgerichten zur Verhütung blutiger Kriege solange die Menschen in ihrer Dummheit noch das Bedürfnis empfinden, sich gegenseitig abzuschlachten. Redner führte an, wie die Alabamafrage, der Streit um die Karolineninseln zwischen Deutschland und Spanien, durch schiedsrichterlichen Schluss geschlichtet wurde. Zum Schluss kam Redner auf die Annahme der Landwehrvorlage durch den vorarlbergischen Landtag zu sprechen, und sagte: Die Abgeordneten gehören der herrschenden Classe an, sie mussten dem Moloch das Opfer bringen, denn auch sie brauchen die stehenden Heere zur Aufrechterhaltung ihrer Privilegien und zur Verwirklichung ihrer reactionären Gelüste und Pläne. Der Widerstand der Minorität sei nur eine Comödie gewesen. Auch die Abgeordneten, welche gegen die Annahme des Gesetzes stimmten, hätten das Gesetz bewilligt, wenn die Regierung die Aufnahme von Bestimmungen in dasselbe gestattet hätte, durch welche das Duell und Soldatenmißhandlungen bestraft, und die Sonntagsheiligung gestattet worden wären, dann hätten sie mit Freuden diese Last dem Volke aufgewälzt. Solche Forderungen aber an den Militarismus zu stellen, sagt Redner gehöre ein hoher Grad von Naivität; der Militarismus verroht Herz und Gemüth, daher sind Duell und Soldatenschinderei die natürlichen Folgen desselben. Duell und Soldatenmisshandlungen werden erst mit dem Aufhören des Militarismus verschwinden.“ (VZ 22.3.1895) Coufals Analyse ist vor allem im Licht des Umstands, dass die sozialistische Internationale zwei Jahrzehnte später am Kriegswiderstand scheitert und den jeweiligen nationalen „Burgfrieden“ von 1914 schließt, beachtlich.

Insgesamt zeigte sich Coufal schon Anfang 1894 in der Einschätzung der Kampfkraft der Vorarlberger sozialdemokratischen Kader realistisch. Wie soll mit so beschränkten Mitteln – die Bewegung rekrutierte sich vor allem aus Handwerkersozialisten – die Organisation des Textilproletariats, einschließlich der italienischen Arbeitermigranten gelingen?[20] Für letzteren Zweck fehlte es allein schon an Flugblättern, Schriften in italienischer Sprache.[21]

Gegen das enge zivilgesellschaftliche Netz, gegen den ideologischen „Schützengraben“ (Antonio Gramsci) der katholischen und bürgerlich liberalen Vereinswelt konnte die trotz allen individuellen Einsatzes dünn besetzte sozialdemokratische Organisation nur mühevoll bestehen. Der Wunsch nach mehr Wanderveranstaltungen schien Coufal nicht erfüllbar, vor allem in Bregenz schien die Lage durch Schikanen von Seite der Polizeikommissäre, der Gemeindebehörde unhaltbar. So wurde am 21. Jänner 1894 eine Versammlung des politischen Vereins für Vorarlberg behindert: „Genosse Leimgruber aus Dornbirn wollte einen Vortrag über den Zweck des politischen Vereines halten. Kaum hatte er 10 Minuten gesprochen, so unterbrach ihn schon der bekannte Commissär Gran Ruaz. Leimgruber erwähnte die Chicanen, welchen der politische Verein in Bregenz ausgesetzt ist. Herr Gran Ruaz fühlte sich betroffen und hat in leidenschaftlicher Weise Leimgruber unterbrochen. Leimgruber wollte einen Situationsbericht bringen, aber es war nicht möglich.“ Der politische Verein sah sich „aus dem Paschalik Bregenz, wo die Genossen, welche im Ausschusse jeweilig sind, auf die schmachvollste Art hinauschicanirt werden“, verdrängt. „Schon mancher wackere Genosse wurde dort um Arbeit und Brot gebracht und mußte die Stadt verlassen.“ Der Vereinssitz wurde „in den politischen Bezirk Feldkirch, nach Dornbirn verlegt, weil dort noch normale Rechtsverhältnisse herrschen“. (VZ 27.1.1894)

Auf der am 10. Februar 1984 in Rankweil tagenden Vorarlbergischen Kreiskonferenz führte Coufal aus, „daß, ehe wir von Neuem öffentliche Volksversammlungen abhalten [können], wir vor Allem dahin wirken müssen, die bestehenden Organisationen nach innen zu kräftigen und neu zu beleben und unverzüglich an die Organisation der Textilbranche schreiten. Für ein so ausgedehntes Agitationsfeld sind die Kräfte zu wenig. Alle Theilnehmer der Conferenz verpflichteten sich alles Mögliche zu unternehmen, was im Stande ist, die Agitation intensiver zu gestalten und die Organisation zu kräftigen.

(…) Ueber die Presse sprach Gen. Coufal. Redner sagte: Da alle Theilnehmer an der Conferenz ohnehin von der außerordentlichen Wichtigkeit der Presse überzeugt sind, so ist es nicht nöthig, daß er viele Worte darüber verliere. In Tirol und Vorarlberg wird die Arbeiterbewegung immer mächtiger und jeder muß zugeben, daß die Bewegung mit der Gründung der ‚Volks-Zeitung‘ an Intensivität zugenommen habe; ohne die Presse ist eine Bewegung undenkbar. Jeder denkende Parteigenosse ist überzeugt, daß die ‚Volks-Zeitung‘ in vergrößertem Format und wöchentlich erscheinen sollte. Darum legte Redner den Genossen an’s Herz für die weiteste Verbreitung des Blattes zu wirken. Er stellte die allerjüngste Organisation Hard als Beispiel hin, welche allein fast 80 Exemplare der ‚Volks-Zeitung‘ bezieht. (Beifall) Hierauf berichtete Genosse Petrik als Administrator der ‚Volks-Zeitung‘ über die finanzielle Lage des Blattes, welche günstig ist und wird erst an der Landesconferenz ein ausführlicher Bericht erstattet werden.“ (VZ 10.2.1894).[22]

Coufal setzte die politische Arbeit bis zu seinem Tod 1898 unentwegt fort, auch wenn seine Krankheit ein öffentliches Auftreten zunehmend verhinderte. So trug er den Protest gegen das im März 1897 verhängte österreichweite Verbot der Eisenbahnergewerkschaft mit.[23]

Im Mai 1897 trat Coufal gemeinsam mit der von den katholischen Gegnern arg bedrängten Wiener Wanderagitatorin Therese Nötscher in mehreren Vorarlberger Orten auf. Schon 1894 hatte Coufal in Rankweil eine Arbeiterinnenversammlung mit Anna Boschek organisiert: „Therese Nötscher schilderte [in Dornbirn] die Nothlage, die Bedrückung und die zunehmende Degeneration der arbeitenden Schichten des Volkes und übte schonungslose Kritik am Ausbeuterthum, den herrschenden gesellschaftlichen Zuständen: mit köstlicher Satyre beleuchtete sie das Treiben des verlogenen, nichtsnutzigen, christlichsocialen Pfaffenthums, welches sich im Interesse der herrschenden Klassen abmüht, die Befreiungsbestrebungen der Arbeiterklasse zu hemmen; nicht weniger köstlich war das Bild, in welchem sie die Bauernschinder von gestern und die ‚geborenen Führer des christlichen Volkes‘ von heute, unsere Junker, der Versammlung vorführte. Besonders packend war der Theil ihrer Rede, wo sie die Arbeiterin als Kind und als Weib schilderte und ihre Aufgaben in dem Befreiungskampfe des Proletariats zeichnete. Die Rednerin wurde oft durch stürmischen, langanhaltenden Beifall unterbrochen, welcher erst recht ausbrach, als Gen. Nötscher unter Aufforderung zum Anschluß an die Organisation des kämpfenden Proletariats ihren 1 ½ stündigen Vortrag geschlossen hatte. Nach einer Pause von 10 Minuten forderte Gen. Coufal die anwesenden Gegner auf, das Wort zu ergreifen.

Nachdem bürgerliche Gegenredner die Lage der Vorarlberger Arbeiterschaft beschönigt hatten, entstand ein zum Versammlungsabbruch benützter Tumult: „Die Arbeitszeit von 11 Stunden sei nicht zu lange und sei die Arbeit in den Fabriken nicht so anstrengend, daß sie dem Körper der Arbeiter und Arbeiterinnen schädlich wäre. Er meinte dann, das Geld, welches die Referentin für ihre Reise von Wien nach Vorarlberg erhalte, wäre nutzlos ausgeworfen, da ja für den Socialismus in Vorarlberg kein Boden sei und in 200 Jahren werde es hier sein, wie es heute ist. Die Agitation der Arbeiter sei nicht berechtigt. Wenn ein Mensch nur 80 oder 40 Kreuzer pro Tag verdient und damit auskommt, so gehe das einen Anderen gar nichts an u.s.w.

Der Vorsitzende hatte große Mühe, die Ruhe so weit aufrecht zu erhalten, bis der Redner zu Ende kam. Ein Sturm des Unwillens durchbrauste den Saal und hörte erst auf, bis Gen. Coufal den Vorsitz übergab, um dem unverschämten Jungen heimzuleuchten. (…) Nun sollte Gen. Nötscher das Schlußwort haben, aber jetzt erhob sich der Regierungsvertreter, Herr Polizei-Obercommissär Gran-Ruaz und löste die Versammlung auf. Ungeheure Entrüstung bemächtigte sich der Versammlung. Gen. Coufal protestirte gegen die Auflösung, für welche gar kein gesetzlicher Anlaß vorlag, und verlangte die Aufnahme eines Protokolls darüber, was jedoch Herr Gran-Ruaz mit der Motivirung verweigerte, hiezu nicht verpflichtet zu sein.“ (VZ 27. Mai 1897)[24]

Alois Treibenreif

Der Tischler Alois Treibenreif (Jg. 1836 in Bozen), auch von den Lebensjahren her der wohl älteste Tiroler Sozialist, kam nach langer Wanderschaft und als sehr oft gemaßregelter radikaler Arbeiteragitator um 1890 zur Tiroler Sozialdemokratie.

Anfang 1893 agitierte Treibenreif verdeckt in Brixen, der „schwarzen Dommetropole“. Eine öffentliche Versammlung unterließ er, was angesichts der dortigen „Pfaffenvorherrschaft“ auch ratsam war. Zum 1. Mai 1893 versammelten sich in Gegenwart von Josef Holzhammer erstmals sozialdemokratisch gesinnte Arbeiter, Handwerksgesellen: „In der clericalen Hochburg Tirols, der Bischofsstadt Brixen, wagte es ein Häuflein Socialdemokraten, am 1. Mai eine öffentliche Volksversammlung zu veranstalten. Wie nicht anders denkbar, führte die schwarze Garde den ganzen ihr zur Verfügung stehenden Apparat von leibeigenen Bauern und Handwerkern der ganzen Umgebung als Statisten und Klatschpersonal ins Treffen. Nach clericalen Blättern mögen etwa 50 Socialdemokraten 450 von christlichen Hetzern fanatisierten schwarzen Brüdern gegenüber gestanden sein. Die von Genossen Holzhammer eingebrachte Resolution wurde selbstverständlich verworfen und eine auf Grund der Encyklica des Papstes beruhende angenommen. Mit Befriedigung erfüllt es uns, daß, was wir vor Monaten noch nicht für möglich gehalten, mindestens 50 gleichgesinnte Genossen in Brixen sind. Das weitere wird die Zukunft lehren.“ (VZ 13.5.1893).

Schon hier bekamen die Sozialdemokraten die Macht der christlichsozialen Gegenhegemonie zu spüren. Die Brixner Theologieprofessoren Sigismund Waitz, späterer Bischof, damals auch Präses des katholischen Gesellenvereins, und Aemilian Schöpfer, später Mitbegründer der Tiroler Christlichsozialen Partei, Herausgeber der militant antisozialistischen „Brixner Chronik“ und Begründer des katholischen „Tyrolia“-Verlages, übten mit Erfolg massiven Druck auf potentielle sozialdemokratische Sympathisanten aus. Die Hoffnungen der „Volks-Zeitung“ erfüllten sich nicht. Anhänger der Sozialdemokratie fanden in Brixen bald keine Arbeit mehr. So gestand die „Volks-Zeitung“ am 25. November 1893 ein: „Brixen. Endlich! Wird mancher Genosse ausrufen, geben die Brixner ein Lebenszeichen von sich. Ihr müßt aber erwägen, daß kein einziger Bruderverein Kämpfe auszufechten hatte, als der Verein in Brixen. Jedesmal, wenn wir einen Obmann gewählt haben oder ein Ausschußmitglied, so wurden dieselben sofort aus der Arbeit entlassen; es gehört Muth dazu, sich in Brixen als Parteigenosse zu bekennen, wo man von allen Seiten von scheinheiligen Pharisäern, von knechtseligen Feiglingen ausspionirt und denunzirt wird. Unsere Gegner, lauter ‚patentirte‘ Christen, scheuen kein Mittel, auch das verwerflichste nicht um uns zu bekämpfen. Aber unsere kleine Schaar haltet aus und nichts wird im Stande sein uns zu entmuthigen. Sonntag, den 5. November hatten wir wieder Monatsversammlung und wurde ein neuer Obmann gewählt. Wie lange er bleiben wird? Bis dahin, bis er auf die hier übliche Weise um die Arbeit gebracht wird. Fürwahr, eine edle Kampfesweise. Wir sind leider sehr arm an Agitationsschriften und Zeitungen. Wir stellen daher an alle Redactionen der Parteiblätter die höfliche Bitte, unserem Vereine ein Frei-Exemplar so lange senden zu wollen bis wir in der Lage sein werden, Blätter zu abonniren. Diese wolle man senden an Genosse Thomas Stefan, Schuhmacher, Altenmarktgasse Nr. 22, Brixen in Tirol – r. (Die Genossen von Dornbirn haben beschlossen, eine Anzahl Bücher und Broschüren den Genossen in Brixen für ihre Bibliothek zu schenken und werden dieselben sofort abgesendet werden. Die Redaction.)“ Und noch auf der SP-Landeskonferenz 1896 berichtete der Vorarlberger Landesvertrauensmann Karl Petrik: „In Feldkirch jedoch sei Alles so schwarz wie in Brixen, so daß sich Niemand rühren könne.“ (VZ 21.8.1896)

Wochen vor dem 1. Mai 1893 hatte Alois Treibenreif versucht, für Brixen eine kleine Arbeiterorganisation auf die Füße zu stellen. Alois Aricochi, 1893 sechzehnjährig „das zweite Jahr in der Lehre“ in „A. Wegers fürstbischöflicher Hofbuchdruckerei“, „die einige der gefährlichen roten Revoluzzer beschäftigte“, berichtet am 23. November 1929 in der „Volks-Zeitung“ aus Anlass von Josef Holzhammers 80. Geburtstag unter dem Titel „Auf Agitation in der Bischofsstadt“: „Eines Tages – im Frühjahr 1893 – nahm der ‚Antichrist‘ Gestalt an. Die Gestalt eines alten, wandernden Tischlergesellen, der in der Herberge ‚Zum Mondschein‘, wo die Handwerksburschen nächtigten das – sozialistische Evangelium verkündete. Nicht, daß Treibenreif – so hieß der schlichte Apostel der neuen Lehre – eine Versammlung abhielt. Das wäre ihm übel bekommen. Aber er erzählte seiner Tischrunde vom Sozialismus. Und unter dieser Tischrunde befanden sich solche, die in dem socialistenreinen, aber gesellenvereinsfrommen Städtchen in Arbeit standen.

Die Abwehr verstärkte sich, als „rote Plakate“ für den 1. Mai 1893 eine Volksversammlung mit Josef Holzhammer als Redner ankündigten: „Der katholische Gesellenverein, der Katholische Arbeiterverein, die klerikalen Zunft- und Betbrüdervereine mit massiven Knütteln, die Theologen des Priesterseminars, das Domkapitel, kurz der ganze klerikale Heerbann – sie alle hatten sich unter Führung der um das Seelenheil ihrer Brixener Schäflein besorgten hochwürdigen Herren Theologieprofessoren Dr. Schöpfer, Dr. Waitz, Dr. Haidegger und Dompfarrer Michaeler eingefunden, um in der ihnen eigenen ‚duldsamen‘ Art die Ausführungen des ortsfremden Sozialdemokraten zu ‚widerlegen‘. (…) Dr. Waitz stieß am Schlusse seiner Ausführungen gegen Holzhammer die Drohung aus: ‚Sie werden in Brixen nicht mehr sprechen!‘

Bald nach dem Mai 1893 verliefen sich die Brixner Genossen: „Die Männer mit den schwarzen Schlapphüten und roten Krawatten verschwanden allmählich aus dem Straßenbild. Nach drei Monaten schon war der ‚Antichrist‘ ausgeräuchert. Die Träger des aufrührerischen sozialistischen Gedankens waren indessen mit werktätiger Nachhilfe der Klerisei brotlos geworden. Sie mußten den Staub der unduldsamen Bischofsstadt von ihren Füßen schütteln.“ Alois Arichochi merkt an, dass es ihm und seinen Genossen ein gutes Jahrzehnt später in Brixen nicht besser erging: „Der Herbergsvater ‚Zum Goldenen Engel‘ teilte uns (…) verlegen mit, dass er ‚Kirchengeld als Hypothek auf seinem Hause‘ habe – und da sei ihm ‚nahegelegt‘ worden usw.“

Alois Treibenreif selbst wirkte fortan als Arbeiterorganisator in Meran, wo er wieder Arbeit als Tischler fand. Er wurde Ende 1893 von den Südtiroler Genossen zum ersten österreichischen Gewerkschaftskongress delegiert. Anna Staudacher hat 1988 für „Sozialrevolutionäre und Anarchisten. Die andere Arbeiterbewegung vor Hainfeld“ (S. 334) eine bis Ende der 1880er Jahre reichende Kurzbiographie Treibenreifs verfasst:

  • 1870 war Treibenreif Mitglied des Wiener Arbeiterbildungsvereins,
  • 1874 Obmann des ABV Salzburg, dann in ähnlicher Funktion in Zürich und München aktiv,
  • 1880 Rückkehr nach Wien, wo er zum Obmann des Fachvereins der Tischler gewählt wird,
  • in den folgenden Jahren als Aktivist des radikalen Flügels der Arbeiterbewegung wiederholt inhaftiert, angeklagt, lernt in den späten 1870er Jahren die Schriften von Michael Bakunin kennen.
  • Treibenreif lehnt im Sinn der arbeiterradikalen Bewegung die staatlichen Sozialreformen als „Wassersuppenpolitik“ ab. Er gilt in Polizeikreisen als besonders „gefährlicher Agitator“. Im Zusammenhang mit den „Anarchisten-Attentaten“ wird 1883 nach Treibenreif per Steckbrief gefahndet.
  • Treibenreif gilt als Anhänger von Johann Most, schmuggelt aus der Schweiz um 1882 revolutionäre Druckschriften Richtung Bregenz.
  • 1884 verlässt er nach Verhängung des antisozialistischen Ausnahmezustandes über Wien und Umgebung Österreich Richtung Budapest, von wo er aber am 8. Mai 1884 „wegen staatsgefährlicher Umtriebe“ ebenfalls ausgewiesen wird.

Alois Treibenreif, der auch ein wenig Italienisch sprach, war an der internationalistischen Ausrichtung der Südtiroler Arbeiterbewegung interessiert. Im Jänner 1894 hat sich in Bozen und Umgebung ein italienischsprachiger Arbeiter- und Arbeiterinnenvereines von Bozen und Umgebung konstituiert. Gut zwei Jahre später kann das in Wien redigierte italienische Parteiorgan „L‘ Avvenire del Lavoratore“ in Rovereto erscheinen. Am 27. Jänner 1894 berichtet die „Volks-Zeitung“ über die Bozner Gründung. Den Artikel zeichnete der Meraner Sozialist Lindig: „Endlich nach harten Kämpfen und vielen Mühen ist es der organisirten Arbeiterschaft von Bozen gelungen, einen kräftigen Schritt nach vorwärts zu thun. Bisher war die deutsche Arbeiterorganisation auf Schritt und Tritt gehemmt, weil sich ihr die italienischen Arbeiter nicht anschließen wollten. Am 6. Jänner fand nun die constituirende Versammlung des Arbeiter- und Arbeiterinnenvereines italienischer Zunge von Bozen und Umgebung statt. Nachmittags um ½ 3 Uhr begrüßte Gen. Ottilini, als Proponent die Versammlung und ließ die Wahl des Bureau vornehmen. Hierauf eröffnete der Vorsitzende Carlo Thaler die Versammlung und ertheilte dem Gen. Cagliari aus Meran zum ersten Puncte der Tagesordnung: Zweck und Nutzen des Vereines, das Wort. Gen. Cagliari entledigte sich seiner Aufgabe in gediegener Weise. Er wies auf die Nothwendigkeit der Vereinigung hin, indem er bewies, dass sich die Arbeiter, ohne Organisation, nur nutzlos im Kampfe mit dem Kapital aufreiben. Die Ursache unseres Elends sei unsere Unwissenheit, in welcher uns zu erhalten Herr und Pfaffe einträchtig zusammenwirken. Wollen wir uns und unseren Kindern eine wahrhaft menschenwürdige Existenz erringen, wollen wir den Kampf um die Hebung der geistigen und materiellen Lage des arbeitenden Volkes siegreich zu Ende führen, so bleibt uns nur eine Wahl, d.h. wir müssen uns organisieren. Redner sagte ferner: Es sei nicht schon alles gethan, wenn sich der Verein constituirt habe, dann erst beginne die Arbeit: Der Unterricht und die Pflege des Classenbewusstseins sowie des Solidaritätsgefühls mit der Arbeiterclasse der ganzen Erde. Es sprachen noch die Genossen Werner und Holl und eiferten die Anwesenden zum Beitritt in den Verein an. Nachdem Gen. Cagliari die Statuten vorgelesen und erläutert hatte, ließen sich 70 Arbeiter als Mitglieder aufnehmen. In den Ausschuss wurden folgende Genossen gewählt: I. Präsident: Carlo Thaler, II. Ottilini; I Secretär: Pressara, II. Zerbata; Cassier: I. Carlo Petruzzi, II. D. Trandi; Beisitzer: Zattelli, Vaia, Sartori, Valenti und Alegranzi. Nach vollzogener Wahl des Ausschusses brachten die Delegierten des Bozner deutschen Arbeitervereins und der Gewerkschaften ihre Begrüßungen des neuen Vereines dar, so wurde auch ein Begrüßungsschreiben des Arbeitervereins Salzburg verlesen. Nachdem noch Gen. Ottilini gesprochen schloß der Vorsitzende mit einigen Worten der Aufmunterung und einem Hoch auf die internationale Socialdemokratie um 6 Uhr abends die Versammlung. Nach der Versammlung schloss sich eine Gründungsfeier an, welche die Anwesenden bis zum frühen Morgen gemüthlich beisammenhielt. Arbeiter Bozens, deutscher Zunge! An Euch ist es nun, den italienischen Genossen kräftig zur Seite zu stehen, wenn die Gesamtorganisation gedeihen solle. Fort mit allem Nationaldünkel, mit allem Kastenstreit. Nur das zusammengehen beider Nationen wird unsere Thätigkeit mit Erfolg krönen. Auf zur Arbeit! (Unseren Gruß und besten Wunsch für das Gedeihen der neuen Kampforganisation. Die Redaction der ‚Volks-Zeitung‘.)

Der nach Südtirol zurückgekehrte (ehemalige?) Arbeiterradikale, nicht mehr junge Alois Treibenreif wird nach seiner Rückkehr nach Tirol, nach seinem Mitwirken in der Hainfelder-Sozialdemokratie von den Behörden weiter schikaniert. Ende November 1983 berichtet Treibenreif in der „Volks-Zeitung“ in einem von ihm mit „Al​.Tr.“ gezeichneten Artikel über die Bewegung unter den Arbeitern von Meran und Umgebung im abgelaufenen Jahr. Meraner Arbeiter, die an der Maifeier teilgenommen haben, waren nach dem Kontraktbruch-Paragraphen der Gewerbeordnung abgestraft worden: „Nachdem seit langer Zeit von Meran kein Bericht über die hiesige Bewegung in der Volkszeitung erschienen ist, so wollen wir dies hiemit nachholen. Seit dem 18. Juni haben in Meran vier große Volksversammlungen stattgefunden, welche jedesmal von 3–400 besucht waren. Eine wurde beim 2. Punct der Tagesordnung: ‚Volk und Parlament‘ aufgelöst. In der am 29. October abgehaltene Volksversammlung wurde einstimmig angenommen: ‚Die heute im Caffee Paris tagende Volksversammlung sieht in der Vereinigung der großen gegnerischen Parteien des Parlaments ihre Ansicht bestätigt, daß jede principielle Gegnerschaft, jeder nationale Streit und der confessionelle Hader unter ihnen in dem Momente verstummt, wo es gilt, dem Volke seine natürlichen Rechte vorzuenthalten. Wir fordern aber trotzdem unentwegt das allgemeine gleiche und directe Wahlrecht und warnen das Abgeordnetenhaus vor Experimenten, denn das österreichische Proletariat gibt absolut dazu kein gefügiges Object.‘

Ferner haben vier große Bauarbeiterversammlungen stattgefunden, welche auch sehr zahlreich besucht waren; bei zwei derselben war der Herr k.k. Gewerbe-Inspector anwesend. Er beklagte sich wiederholt, daß er mit Arbeit überhäuft ist und daß er in Folge dessen nicht alles übersehen könne. Darum ist die Forderung der Socialdemokratie: Vermehrung der Gewerbe-Inspectoren, welche auch aus Arbeiterkreisen zu ernennen sind, sehr gerechtfertigt. Den Baumeistern in Meran, Musch und Lun, sowie Pelikan in Forst, welche die Ausbeutung der Arbeiter im großen Stil betreiben, liegen die Versammlungen sowie die Organisation der Arbeiter sehr im Magen. Besonders Lun, welcher in einer dieser Versammlungen anwesend war, wurde so in die Enge getrieben, daß er das Hasenpanier ergreifen mußte.

Ferner haben hier mehrere Versammlungen nach § 2 stattgefunden; in der Versammlung vom 9. November wurde Genosse Treibenreif als Delegirter zum Gewerkschafts-Congress nach Wien gewählt. Besonders gut organisirt sind die Maurer, Tischler und Metallarbeiter. Mit dem Hetzpfaffen des ‚Burggräfler‘, welcher uns in einem fort verleumdet und mit Koth bewirft, haben wir fortwährend scharfe Kämpfe, hoffen aber, mit ihm bald fertig zu werden, respective mit ihm abzurechnen. Die erste Maifeier war hier eine großartige, jedoch wurden viele wackere Genossen wegen Contractbruchs gemaßregelt; es wurden mehrere Recurse an die Statthalterei eingereicht, wir haben aber bis dato keine einzige Erledigung in Händen. In kurzer Zeit erfolgt ein eingehender Bericht über unsere Gewerkschaften. Betreffs der ‚Volks-Zeitung‘ wird Sorge getragen, daß sie als unser Landes-Parteiorgan zahlreich verbreitet wird. Wir wollen dahin wirken, daß die ‚Bauarbeiter-Zeitung‘ eine italienische Beilage erhält, oder daß ein selbständiges italienisches Organ gegründet wird, denn es ist eine Nothwendigkeit, daß unsere italienischen Genossen ein Organ haben; die Mailänder ‚Lotta di classe‘ ist für unsere österreichischen Verhältnisse wenig wirksam. (…)

So wollen wir in Eintracht und mit aller Energie dahin wirken, daß unsere Organisation ausgebaut und befestiget werde, daß Aufklärung und Classenbewußtsein in die Arbeitermassen dringe, wohl wissend, daß die Arbeiterclasse nur als eine organisirte Macht den herrschenden Classen imponiren und ihre Befreiung erzwingen könne. Die Zeiten werden immer ernster, der Kampf des Proletariats immer erbitterter, alle bürgerlichen Parteien schließen unter sich Frieden und verbinden sich mit dem Pfaffenthum zum geschlossenen Ganzen gegen die um Freiheit und Brod ringende Arbeiterclasse. Daher ist es ein Verbrechen an der Sache der Freiheit und der Arbeit, in solchem Momente in die Arbeitermassen Zwietracht und Uneinigkeit zu schüren, wo wir alle einig sein müssen, wenn wir auch betreffs der Taktik und Kampfmittel verschiedener Ansicht sind; das eine Ziel, die Befreiung der Arbeiterclasse, erstreben wir alle. Darum auf, Genossen von Meran, schließen wir uns enge zusammen gegen den gemeinsamen Feind, den Dreibund: Junker, Pfaff und Geldsack. (…)

Nachschrift. Auf der Tagesordnung der am 18. October abgehaltenen Volksversammlung stand als erster Punct: ‚Das Recht auf Arbeit‘, als zweiter Punct: ‚Parlament und Volk‘. Ueber diesen zweiten Punct referirte Malermeister Hans Greitsch [Gritsch ?]. Redner konnte nicht zu Ende sprechen, weil der Regierungsvertreter die Versammlung aufgelöst hatte und wird sich der Referent nach § 65 des StrG beim Kreisgerichte Bozen zu verantworten haben.“ (VZ 25.11.1893)

Im November 1893 versuchte der Polizeiapparat in Verbindung mit dem konservativen „Burggräfler“ Treibenreifs Delegierung zum Gewerkschaftskongress in Wien unter Hinweis auf dessen politische Vorgeschichte zu verhindern: „Hier wollen wir durch ein Beispiel zeigen, wie man mit uns Arbeitern umgeht. Als Genosse Treibenreif von den hiesigen organisirten Arbeitern zum Delegirten für den Gewerkschafts-Congreß gewählt wurde, beeilte sich das hiesige schmachvolle Pfaffenblatt, der ‚Burggräfler‘, denselben nach echt christlicher Art im Kothe herumzuziehen. Der ‚Burggräfler‘ denunzirte Treibenreif, daß er schon aus mehreren Städten in Oesterreich ausgewiesen wurde und überhaupt keine Bildung besitze usw.

Die Bezirkshauptmannschaft Meran intervenierte nicht zuletzt mit dem Ziel, dass Treibenreif an seiner Arbeitsstelle entlassen wird: „Auf die Denunziation des ‚Burggräflers‘ ließ sich die k.k. Bezirkshauptmannschaft zu folgendem herbei: Am 16. November erschien in der Werkstätte des Herrn Otto Parr, Tischlermeister in Untermais, bei welchem Gen. Treibenreif in Arbeit steht, der Gendarmerie-Wachtmeister in voller Rüstung und erkundigte sich nach Treibenreif; weil dieser gerade auf einem Neubau beschäftigt, so ging der Gendarm fort und kam nachmittags wieder und erkundigte sich zum Treibenreif auf’s angelegentlichste und empfahl seinen Collegen, Treibenreif zu sagen, daß er nicht zum Gewerkschaftscongreß nach Wien gehen solle, ja, er dürfe nicht nach Wien, denn zwei Gewerkschaften hätten sofort nach der Wahl Treibenreifs zum Delegirten bei der Bezirkshauptmannschaft gegen diese Wahl Beschwerde eingelegt, was eine erbärmliche Lüge ist, denn alle Gewerkschaften haben eine solche Zumuthung zurückgewiesen. Am 18. ds. erschien der Gendarm dreimal im Hause; die ganze Umgebung ward alarmirt, alles war in größter Spannung, was denn doch geschehen sei. Endlich traf der Gendarm Gen. Treibenreif in der Werkstätte und er ersuchte ihn um einige Aufklärungen über eine stattgehabte Versammlung nach § 2. Welchen Zweck hatten die zahlreichen Besuche des Gendarmen in der Werkstätte des Herrn Parr? Nun wir wissen ja alle, was mit ähnlichen Besuchen erzweckt wird; es wird Aufsehen erregt, der Arbeiter kommt bei dem Arbeitgeber in Mißcredit und Verdacht, daß er ein gefährlicher Mensch sei und so wird auf diese Weise der Mensch um Arbeit gebracht und aus dem Orte verdrängt. In diesem Falle ist es aber nicht gelungen.“ (VZ 25.11.1893)

Es war vorerst nicht gelungen, denn unter weiterem Druck wurde Treibenreif dann doch entlassen, um in der Folge im Sommer 1894 als „arbeitsscheu“ aus Meran ausgewiesen zu werden. Hinzu kam ein Gerichtsverfahren gegen Treibenreif und einen weiteren Genossen: „Einiges über den Prozess gegen Genossen Gritsch. Zu den Verhandlungen im Prozesse gegen Gen. Gritsch war der Zutritt nur gegen Vorweisung von Eintrittskarten gestattet, an welcher der volle Name des Besitzers stehen musste. Gen. Gritsch wurde in seiner Vertheidigungsrede vom Gerichtspräsidenten Köpf nicht weniger als zweiundzwanzigmal unterbrochen. Der Präsident gab im Verlaufe der Verhandlungen auch seine politische Weisheit zum besten, er meinte, dass wenn die Arbeiter das allgemeine gleiche und directe Wahlrecht bekämen, die gegenwärtig herrschenden Parteien ruiniert wären. (Das wäre ein Unglück!)

Die vier Entlastungszeugen Cagliari, Orsinger, Socher und Havell wollte der Gerichtshof gar nicht beeidigen, erst auf die energische Forderung des Vertheidigers Dr. Huber hat man sie beeidet. Man war sehr bemüht, den Arbeiterverein für die Agitation verantwortlich zu machen, aber die Zeugen (…) konnten dies nicht bestätigen, vielmehr wurde Gen. Treibenreif als ein thätiger Agitator und ‚Wühler‘ bezeichnet, der schon aus verschiedenen Orten wegen seiner Thätigkeit ausgewiesen wurde. Tischlermeister Paar musste Treibenreif aus der Arbeit entlassen, denn die miserable schwarze Pfaffensippe hätte den Meister materiell ruiniert. Gen. Gritsch wurde bekanntlich wegen Aufruhr, § 65 des St.G. zu 3 Monaten Arrest verurtheilt, die vom Vertheidiger Dr. Huber eingereichte Nichtigkeitsbeschwerde wurde abgewiesen und wird Gen. Gritsch am 8. Mai zurückkehren. Möge er wohlbehalten am 8. Mai zurückkehren.“ (VZ 10.2.1894)

Im Februar 1894 nahm Treibenreif an der südtirolischen SP-Kreiskonferenz in Bozen teil. Er warb zum Zustimmung zu den Beschlüssen des Wiener Gewerkschaftskongresses: „Gen. Treibenreif nahm sonach das Schlusswort und fordert auf, dass die heute gefassten Beschlüsse [etwa zur Beschickung des Parteitages in Wien, zum Ausbau der ‚Volks-Zeitung‘ und zur Unterstützung der italienischen Genossen – Anm.] aufrecht erhalten werden und alles aufgeboten werden muss, uns durch Vereinbarung und Solidarität ein menschenwürdiges Los zu schaffen und betont sonach Carl Marx Worte ‚Proletarier aller Länder vereinigt Euch!‘

Im Mai 1894 war Treibenreif zur Landeskonferenz für Tirol und Vorarlberg delegiert. Die Landesversammlung stand unter dem Eindruck der blutigen Niederschlagung des Bergarbeiterstreiks in Mährisch-Ostrau und Falkenau (mehrere tote Arbeiter!). Treibenreif berichtete über die Schwierigkeiten der Organisation in Südtirol und im Trentino: „Dessenungeachtet wurde unter dem 2. Punkte Organisation und Agitation noch Klagen laut über ‚zu wenig Thätigkeit‘. Der Mangel italienischer Blätter oder Broschüren wurde besonders stark hervorgehoben. Die Leidensgeschichte des politischen Vereines für Südtirol wird in einer späteren Nummer unserer Zeitung besprochen werden. Ebenso der Antrag: Die Kreisparteivertretung wird beauftragt, bei der Reichsparteivertretung dahin zu wirken, dass der am Parteitag gefaßte Beschluss betreffend die Herausgabe italienischer Flugblätter oder einer solchen Zeitung ehebaldigst zur Durchführung gelange.“ (VZ 26.5.1894)

Am 23. Mai 1894 sprach Johann Coufal in Meran in Anwesenheit von Treibenreif zum missachteten Streik- und „Coalitionsrecht der Arbeiter und die Stellung der Behörden“. Am 9. Juni 1894 berichtet die „Volks-Zeitung“ in einem teilweise der Konfiskation und Zensur unterworfenen Artikel: Coufal „protestierte gegen die grenzenlose Beschirmung des Coalitionsrechtes und gegen die Knebelung der Arbeiterpresse, deren die Arbeiterbewegung bedarf, wie die Pflanze des Regens und des Sonnenscheins. Ferner sprachen zu diesem Thema noch in Meran Gen. Treibenreif und in Bozen Thaler (italienisch).“

Nach einer sabotierten sozialdemokratischen Volksversammlung in Lana wurde Treibenreif Ende Juni 1894 verhaftet und im Juli aus Meran und Umgebung „abgeschafft“: „Im April d. Js. wurde [in Lana] die erste Vollversammlung abgehalten und war der Eindruck, welchen die Referate der socialistischen Redner auf die Zuhörer machten, ein sehr guter; musste ja doch der Herr Dechant, wenn auch mit saurer Miene, zugeben, dass es wahr sei, was die Redner sagten. Bald darauf erschien in dem clericalen Meraner Hetzblatte ‚Burggräfler‘ ein jämmerlicher Artikel und darin die Drohung, dass, wenn es den Socialdemokraten wieder einfallen sollte, in Lana eine Volksversammlung abzuhalten, auch die Schwarzen kommen und ihnen die Larve der Lüge vom Gesichte reißen werden. So wollten die Socialdemokraten wieder am 24. Juni eine Versammlung in Lana einberufen und freuten sich auf den angekündigten Besuch der muthigen Gottesstreiter. Aber siehe da! Kaum hatten die Schwarzen von dieser Absicht Wind bekommen, als sie sofort daran giengen, die Wirte, welche Säle zur Verfügung hatten, zu bearbeiten, damit sie diese für die Versammlung nicht hergeben. Zwei Hochwürdige, Pater Eberhart und Pater Sales, giengen die ganze Woche von einem Wirt zum andern und sie hatten Erfolg; die Versammlung konnte nicht abgehalten werden. Ob sich aber die Clericalen ihrer Feigheit und Schlechtigkeit schämen werden? Gewiss nicht.

Am selben 24. Juni kamen einige Genossen aus Meran hier an und vertheilten einige Broschüren und das hatte die Folge, dass am 27. Juni Gen. Treibenreif verhaftet und bei ihm gehaussucht wurde. Am 28 Juni glich die Werkstätte des Gen. Süß in Lana mehr einem Gendarmerie- Postencommando; man wollte erfahren, wer die Missethäter sind welche den § 23 des P.-G. übertraten. Nun an solche alltäglichen Vorkommnisse sind wir gewöhnt, nur können wir nicht begreifen, dass derselbe § 23 nicht auch an die clericalen Hetzer angewendet wird. Am 30. Juni vertheilte Pater Eberhart den ganzen Tag Broschüren fast in jedem Hause, und dabei den christlich-sozialen Wisch ‚Die Gerechtigkeit‘, aber kein wachendes Auge des Gesetzes ließ sich blicken; er wurde nicht verhaftet und auch fand bei ihm keine Haussuchung statt. Und da erzählt man uns immer von der Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetze.

Ende September 1894 wurden Treibenreif und sechs weitere Mitangeklagte in Bozen freigesprochen. Der mittlerweile in die Gegend von Innsbruck und Hall verdrängte Treibenreif konnte aber trotzdem nicht mehr nach Meran zurückkehren. Im Juli 1894 war Treibenreif wegen „Aufreizung gegen einzelne Classen und Stände“ abgeschafft worden.

Die Berufung gegen das Abschaffungserkenntnis wurde im Dezember 1894 abgewiesen: „Ausweisbestätigung. Wie wir seinerzeit berichteten, wurde Gen. Treibenreif im Juli d.Js. aus Meran ausgewiesen. Gegen die Ausweisung wurde Recurs erhoben an die k.k. Statthalterei, auf welche folgende Erledigung erfolgte: ‚Z. 16.587. An Alois Treibenreif, Tischlergehilfe in Innsbruck. Mit hohem Erlasse vom 2.d.Mts. Z. 29.044 fand die k.k. Statthalterei Ihrem Recurse gegen das h.ä. Erkenntnis vom 13. Juli d.Js. Zl. 8878, mit welchem Sie für immer aus dem politischen Bezirke Meran abgeschafft worden sind, keine Folge gegeben, nachdem Sie durch nahezu ein halbes Jahr aus Arbeitsscheue beschäftigungslos waren und während dieser Zeit wiederholt die öffentliche Mildthätigkeit in Anspruch genommen haben, somit die Voraussetzungen des § 2 bezw. § 1a des Gesetzes vom 27. Juli 1871 RGBl. Nr. 88 für die Abschaffung gegeben sind.

Gegen diese h. Entscheidung ist nach § 7 lit. c) ein weiterer Recurs nicht zulässig. Hievon setze ich Sie unter Rückschluss ihres Arbeitsbuches hiemit mit dem Bemerken in Kenntnis, dass im Falle der verbotswidrigen Rückkehr in das Ausweisungsgebiet die Folgen der Uebertretung des § 324 Allg. Straf-Gesetz im Betretungsfalle eintreten würde. Meran, am 9. December 1894. Der k.k. Bezirkshauptmann: Unterschrift unleserlich.‘

Im Unterschied zu anderen Arbeiterradikalen hat Treibenreif offenbar die Ergebnisse des von den „Gemäßigten“ um Viktor Adler dominierten „Einigungsparteitages“ von Hainfeld 1888/89 zumindest teilweise akzeptiert und ein Mitwirken in der neuen Sozialdemokratie für sinnvoll anerkannt. Die „Volks-Zeitung“ kommentiert die Verfolgung von Treibenreif folgendermaßen: „Alois Treibenreif ist ein alter, ausgebeuteter und ausgesogener Tischlergehilfe, welcher eines der vielen Opfer unserer heutigen Gesellschaftsunordnung ist. Mit Arbeitsscheue und öffentlicher Mildthätigkeit, worauf wir später noch zurückkommen werden, motiviert die heutige Classenherrschaft nur ihre eigene Unfähigkeit, einen tieferen Einblick in die heutigen sozialen, wirthschaftlichen Verhältnisse des Arbeiterstandes zu machen.“[25]

Anfang März 1895 stand Treibenreif mit dem Genossen Johann Brandtner noch einmal wegen „Parlamentsbeleidigung“ vor Gericht: „Am 18. März fand beim hiesigen Bezirksgericht die Verhandlung gegen die Genossen Brandtner und Treibenreif wegen Uebertretung nach § 491 und 496 St.-G. Art. 5 des Ges. vom 17. Decbr. 1862, statt. Grund zur Anklage bildete die von obgenannten Genossen gehaltenen Reden in der Wahlrechtsversammlung beim Mondschein. Das Urtheil lautete für Genosse Brandtner 10 Tage Arrest und für Treibenreif 1 Monat.“ (VZ 11.4.1895)

Im Sommer 1895 verliert sich Treibenreifs Spur in der Tiroler Arbeiterbewegung. In vielerlei Hinsicht demoralisiert führte die klerikale Meraner „Burggräfler“-Zeitung weiter eine Kampagne gegen den „abgeschafften“ Treibenreif, er habe eine Arbeiterfamilie bestohlen. Der fast 60jährige Alois Treibenreif stand zuletzt offenbar mit der Haller Sozialdemokratie in Kontakt, denn am 15. Juni 1895 zeigt die „Volks-Zeitung“ an: „Alois Treibenreif, Tischler, wird aufgefordert, sofort seine Adresse an den Allg. Arbeiter Bildungsverein in Hall in Tirol bekannt zu geben. Der Obmann: M. Biermayer.“


[1] Karl Beck, im März 1930 im Alter von 79 Jahren verarmt gestorben, Aktivist der gewerkschaftlichen Schuhmachervereine, schon in den späteren 1870er Jahren polizeilich schikanierter Kolporteur von sozialistischer Literatur. Beck war Mitgründer vieler Fachvereine. Er war beteiligt an den Streikkämpfen der Schuhmacher 1885 in Innsbruck, betrieb später in der Innsbrucker Altstadt eine kleine Schusterwerkstatt, von der er „mehr schlecht als recht lebte“. Josef Gleinsler spricht beim Begräbnis. Vgl. Nachruf in VZ 22.3.1930 und VZ 25.3.1933 mit Artikel über sechzig Jahre Schuhmachergewerkschaft. „Volks-Zeitung“ abgekürzt: VZ!

[2] Vgl. Gerhard Oberkofler: Die Tiroler Arbeiterbewegung. Von den Anfängen bis zum Ende des 2. Weltkrieges, zweite, vermehrte Auflage, Wien 1986, 28–64 und Horst Schreiber: Die Geschichte der Tiroler Sozialdemokratie im Überblick, in: Sozialdemokraten in Tirol. Die Anfänge, hrg. von Rainer Hofmann und Horst Schreiber, Innsbruck-München 2003, 57–56. Über Reisch, Wanke und andere frühe Tiroler Sozialisten auch Herbert Steiner: Die Arbeiterbewegung Österreichs 1867–1889 oder Gerhart Baron: Der Beginn. Die Anfänge der Arbeiterbildungsvereine in Oberösterreich, Linz 1986, nach Namenregister! Sowie Josef Holzhammer: Immer vorwärts, nie zurück [Aus der Geschichte der Tiroler Arbeiterbewegung], in: VZ 28.10.1912 oder Josef Prachensky: Aus den Anfängen der Tiroler Arbeiterbewegung, in: VZ 5. 6. und 8. Mai 1931.

[3] Vgl. Walter Nigg: Der Gründervater Josef Holzhammer (1880–1942), in: Sozialdemokratie in Tirol. Die Anfänge, hrg. von Rainer Hofmann und Horst Schreiber, Innsbruck-München 2003, 77–88.

[4] Johann Gleinsler, geboren am 23. Februar 1857 in Innsbruck als Sohn eines Dieners und Requisiteurs am Innsbrucker Stadttheater, erlernt den Schuhmacherberuf, in den 1870er Jahren der Theatergruppe eines katholischen Gesellenvereins in Salzburg beigetreten, wechselt aber bald zur sozialdemokratischen Arbeitervereinigung in Laufen, gründet dann in Passau einen Fachverein der Schuhmacher, wird dort erstmals polizeilich gemaßregelt, 1879 Rückkehr nach Innsbruck, aktiv im hiesigen Allgemeinen Arbeiterverein, als Kolporteur der „Volks-Zeitung“ gelingt es ihm wiederholt, angeordnete Konfiskationen zu unterlaufen und das Gros der Exemplare an die Abonnenten weiterzuleiten, um 1890 in Hall in einer sozialdemokratischen Gruppe aktiv, tätig auch für Arbeiter- und Bauerntheateraufführungen, ab 1895 als Krankassa-Kontrollor, Anfang 1937 verstorben. (VZ 23.7. 1927 und 4.2.1937)

[5] Josef Prachensky (geb. 11. März 1861 in Leitmeritz) Buchdruckerlehre, macht 1882 den Buchdruckerstreik in Wien mit, kommt über Oberösterreich, Salzburg 1884 in den Jahren der Fraktionskämpfe mit den Arbeiterradikalen und der Ausnahmezustandsrepression nach Tirol. Ende der 1890er Jahre wird Prachensky Redakteur der „Volks-Zeitung“: Er legte mit den Grundstein für ein Tiroler Arbeiterblatt, „um dem Ansturm der bürgerlichen Presse, dem Terror der Klerikalen wirksam entgegentreten zu können“. Lebenslang aktiv in der Wiltener Parteisektion. (Nachruf in VZ 1.10.1931)

[6] Michael Zelger, aus Neumarkt in Südtirol, 54 Jahre alt im September 1914 gestorben, Schuhmachergewerkschaftler, dann Krankenkassasekretär in Innsbruck, seit den frühen 1880er Jahren mit sozialdemokratischen Genossen in Kontakt, im Allgemeinen Arbeiterverein Innsbruck und im Fachverein der Schuhmacher, seit 1891 als Sekretär der Arbeiterkrankenkassa aktiv, mit Saska an der Gründung der „Volks-Zeitung“ beteiligt. (Nachruf in VZ 22.9.1914)

[7] Vgl. Rainer Hofmann: Hermann Flöckinger (1861–1930). Erster Landessekretär der Gewerkschaftsbewegung, in: Sozialdemokratie in Tirol. Die Anfänge, hrg. von Rainer Hofmann und Horst Schreiber, Innsbruck-München 2003, 247–254.

[8] Vgl. Oliver Seifert: Der Bauernagitator Johann Filzer (1858–1930). „Aus Erkenntnis bin ich rot geworden!“, in ebenda, 263–273; Wolfgang Meixner: Johann Filzer. Sozialistische Bauernagitation in Tirol und Vorarlberg um 1900, in: Die Roten am Land. Arbeitsleben und Arbeiterbewegung im westlichen Österreich, hrg. von Kurt Greussing, Steyr 1989, 22–28.

[9] Johann Amos, 1933 gestorben, als Spengler nach Innsbruck, mit Simon Ladstätter u.a. Gründer der Eisenbahnergewerkschaft Tirol: „Genosse Amos ist über 70 Jahre alt geworden. Er stammte aus Ungarn. Als junger Bursche ist er auf der Walze nach Innsbruck gekommen und hat vor 50 Jahren in der Werkstätte der Südbahn Arbeit gefunden. (…) Zur Arbeiterbewegung ist Genosse Amos frühzeitig gekommen. Er gehörte mit dem ihm im Tode vorangegangenen Gen. [Simon] Ladstädter zu den Gründern der Eisenbahnerorganisation in Innsbruck.“ Amos hat das Verbot der Eisenbahnergewerkschaften 1897 miterlebt. Simon Ladstätter, ca. 1850 geboren, 1918 gestorben, Mitbegründer der Tiroler Eisenbahnerorganisation, Tischlerpartieführer bei der Südbahn. (VZ 23.7.1918 und 27.9.1933)

[10] Karl Schiedeck, geboren 1857 in Niederschlesien, in Teschen am Aufbau der Organisation in Teschen mitgeholfen, in den 1890er Jahren nach Tirol gekommen, in der Schuhmachergewerkschaft auch als Streikorganisator aktiv und als Agitator wie als „Kolporteur sozialistischer Schriften.“ (VZ 17.2.1927 und 25.3.1933).

[11] Michael Seyr und Josef Prader bedanken sich am 28. Jänner 1893 in der „Volks-Zeitung“ für die gewährte Solidarität: „Den besten Dank für die uns zutheil gewordene Unterstützung anläßlich unserer Maßregelung in Wörgl, Allen, welche dazu beigetragen. Mit Brudergruß Michael Seyr und Josef Prader. Ein herzliches Lebewohl allen Collegen und Genossen in Wörgl, von denen ich mich nicht mehr verabschieden konnte. Mit Brudergruß Michael Seyr.“ Am 24. September 1912 berichtet die „Volks-Zeitung“ in einem Rückblick auf die Wörgler Versammlung von 1892, bei der auch Saska, Holzhammer, Prachensky und Gleinsler anwesend waren. Auch das Schreiben der Gemeindevorstehung von Rattenberg-Wörgl vom 30. Dezember 1892, mit welchem die Entlassung von Sey(e)r und Prader gefordert wird, ist zitiert: „Herrn Pallasser, Schustermeister Wörgl. Im besonderen Auftrage der Gemeindevorstehung Kufstein-Wörgl sehe ich mich genötigt, Ihnen die Mitteilung zu machen, entweder die zwei in Ihrem Dienste stehenden Gesellen, welche die Veranlassung zur Sozialdemokraten-Versammlung gegeben, zu entlassen, widrigenfalls ich Ihnen selbst künden muß.“

[12] Nachruf auf Ignaz Saska in Volks-Zeitung 17.1.1896.

[13] Über Coufal und Leimgruber und andere Vorarlberger Sozialisten wie Josef Thallacker, Carl Joscht, Johann Kapaunigg oder Koloman Markart/Markat, u.v.a.m. Reinhard Mittersteiner: „Fremdhäßige“, Handwerker & Genossen. Die Entstehung der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung in Vorarlberg, Bregenz 1994, 23–32.

[14] Vgl. Gerhard Oberkofler: Der erste Schritt. Die Gründung der Tiroler sozialdemokratischen Arbeiterpartei 1890, Innsbruck 2010.

[15] Zitiert nach Reinhard Johler: „Jeatzt würds heall, jeatzt würds liacht!“ Sozialdemokratische Maifeiern in Vorarlberg 1890–1933, in: Im Prinzip Hoffnung. Vorarlberger Arbeiterbewegung 1870–1946, hrg. von Kurt Greussing, Bregenz 1994, 225–258, hier 227 mit weiteren Beispielen.

[16] Vgl. Werner Bundschuh, Werner Dreier, Reinhard Mittersteiner: Sozialdemokraten im Dorf. 100 Jahre SPÖ Hard, Bregenz 1994.

[17] Vgl. zur sozialdemokratischen Wahlrechtsbewegung Peter Kulemann: Am Beispiel des Austromarxismus, Hamburg 1982, 93–98.

[18] Vgl. Julius Braunthal: Geschichte der Internationale I, Hannover 1961, 258f. und L.I. Subok (Hrg.): Die Geschichte der Zweiten Internationale I, Moskau 1983, 419–442.

[19] Zum 1. Österreichischen Gewerkschaftskongress und seinem Bemühen die vielen lokalen Fachvereine zentraler nach dem Industriegruppenprinzip zu organisieren, seine Beratungen zum Arbeiterschutzrecht, zum Streik- und Koalitionsrecht, zu Widerstandfonds, zum gewerkschaftlichen Rechtsschutz, Reiseunterstützungs‑, Herbergswesen vgl. Julius Deutsch: Geschichte der österreichischen Gewerkschaftsbewegung. Die sozialistischen Gewerkschaften von ihren Anfängen bis zur Gegenwart, Wien 1908, 190–202.

[20] Vgl. zur Konstituierung des „Centralvereins der Textilarbeiter beider Geschlechter“ im Sommer 1895 Werner Bundschuh – Werner Dreier – Reinhard Mittersteiner: Die „Fabrikler“ organisieren sich. 100 Jahre Gewerkschaft Textil, Bekleidung und Leder Landesorganisation Vorarlberg, Bregenz 1995.

[21] Vgl. Robert Sutterlütti: Italiener in Vorarlberg 1870–1914. Materielle Note und sozialer Widerstand, in: Im Prinzip Hoffnung. Arbeiterbewegung in Vorarlberg 1870–1914, hrg. von Kurt Greussing, Bregenz 1984, 133–157; Reinhard Johler: Mir parlen Italiano und spreggen Dütsch piano, Italienische Arbeiter in Vorarlberg 1870–1914, Feldkirch 1987.

[22] Zur Rolle der „Volks-Zeitung“, anfangs zweimal im Monat erscheinend, ca. 1200 Abonnenten zählend vgl. Matthias Scantamburlo: Die Anfänge der Arbeiterbewegung in Tirol und Vorarlberg. Dokumentiert anhand der Volks-Zeitung. Organ für die Interessen des arbeitenden Volkes in Tirol und Vorarlberg von 1892–1896, phil. Diplomarbeit, Innsbruck 2014.

[23] Vgl. Friedrich Vogl: Österreichs Eisenbahner im Widerstand, Wien 1968, 13–16.

[24] Vgl. Anna Boschek: Aus vergangenen Jahren, in: Gedenkbuch 20 Jahre österreichische Arbeiterinnenbewegung, hrg. von Adelheid Popp, Wien 2012, 98–102.

[25] Ein weiteres Stadtverweis‑, „Abschaffungs“-Erkenntnis, eines von unzähligen, am Beispiel von Bregenzer streikenden Buchdruckern: „Die vier Genossen, Herinek, Stejskal, Bergs und Götz, die Opfer der polizeilichen Maßregelung nach der Arbeitsniederlegung in der Buchdruckerei Flatz, wurden heute nach Abkürzung ihrer 14tägigen Arreststrafe als Beigabe noch mit dem Stadtverweise beehrt und mußten Bregenz binnen wenigen Stunden verlassen. Und dies alles, weil sie sich ‚erfrechten‘, menschenwürdige Behandlung zu verlangen. Es lebe die Freiheit!“ (VZ 26.8.1893)

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