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Der kleine Diktator von Kiew

Ein Essay von Otto Bruckner zum Zustand der Ukraine nach elf Jahren Krieg.

Entweder Selenskyj wird von seiner Entourage von der Realität hermetisch abgeschirmt, oder er nimmt sie schlicht nicht zur Kenntnis. Bei seinem möglicherweise letzten Auftritt beim Word Economic Forum (WEF) im Schweizer Nobelbergort Davos gab er wieder Unsinn am laufenden Band von sich. Gefühlt einhundert mal kam in seiner Rede „Europa“ vor. Europa dürfe jetzt nicht schauen, was der neugewählte US-Präsident Trump tun wird, sondern müsse selbst handeln. Er fordert massive Aufrüstung, eine Annäherung der NATO-Staaten an das von Trump genannte Ziel, 5% des BIP für Verteidigung auszugeben und er träumt schon von einer 200.000 Mann starken Truppe des Westens in der Ukraine.

Zunächst einmal sollte man den Schauspieler-Präsidenten in den Geographie-Unterricht schicken. Europa, das sind 44 Staaten mit einer Einwohnerzahl von fast 750 Millionen Einwohnern, dazu gehört ein großer Teil der Bevölkerung Russlands. EU-Europa, das er vermutlich meinte, besteht aus 27 Staaten und 450 Millionen Einwohnern. Er, der kleine Diktator meint, Europa diktieren zu können, was es zu tun hat. Die Slowakei und Ungarn will er aus der EU werfen, ja die Ukraine wird das, was er unter „Europa“ versteht mit seiner in Auflösung befindlichen Armee anführen im Krieg gegen Russland.

Inzwischen verliert seine Armee an der Front jeden Tag an Boden. Jeden Tag sterben ukrainische Soldaten und Zivilisten oder werden verletzt. Jeden Tag stimmen die jungen Menschen mit den Füssen ab und verlassen auf zum Teil abenteuerlichsten Wegen die Ukraine, die zu einem Freiluftgefängis für seine männliche Bewohnerschaft geworden ist, ausgenommen natürlich jene, die es sich leisten können, Beamte zu bestechen oder zur Kaste der Reichen gehören. Die Armee der russischen Föderation hat in letzter Zeit im Donbass die wichtigsten Kohlegruben der Ukraine erobert, aus deren Kohle Koks für die Stahlproduktion hergestellt wird. Das größte (unerschlossene) Lithiumfeld der Ukraine gehört jetzt zu Russland, weitere Eroberungen werden folgen. Was Russland nicht besetzt, verscherbelt Selenskyj – teils mit Hilfe der Oligarchen, die als Strohmänner dienen – an US-amerikanische und europäische Konzerne und Heuschreckenfonds.

Die Soldaten, die den Krieg überleben, werden nach Hause kommen und feststellen, dass sie nicht in einem freieren Land leben, als vor dem Krieg, sondern Sklaven in einem Land sind, das den multinationalen Konzernen und Fondsgesellschaften gehört. Die Regierung in Kiew wird – wie jetzt schon – eine Marionettenregierung der USA und der EU sein, die Oberschicht wird sich weiter am verbliebenen Volksvermögen bereichern und sich mit den ausländischen Herren arrangieren. So etwas nennt man Kompradorenbourgeoisie.

Selenskyj lässt gerade Offiziere und Generäle einsperren, die als erste Sündenböcke für russische Durchbrüche und Massendersertion herhalten müssen. So hat er es mit der politischen Opposition, mit unliebsamen Journalisten und mit Kritikern aus der Bevölkerung gemacht, wenn diese nicht rasch genug das Weite suchen konnten. Der kleine Diktator vor Kiew wird aber aufpassen müssen, dass ihm nicht eines Tages selbst der Prozess gemacht wird, nämlich dann, wenn alle in der Ukraine erfahren, dass der Frieden im März 2022 zum Greifen nah war und er sich von seinen Auftraggebern in den USA und Großbritannien in die Eskalation des Krieges hetzen liess. Hunderttausende Tote und viel Zerstörung hätten vermieden werden können und die Friedensbedingungen wären für die Ukraine bessere gewesen als jetzt.

Selenskyj wird zuschauen müssen, wie die imperialistischen Blöcke USA und Russland über sein Schicksal und das der Ukraine entscheiden werden. Auch die Präsidentin der EU-Kommisssion, Ursula von der Leyen, hatte ihren unvermeidlichen Auftritt bei den Wirtschaftsbossen der Welt in Davos. Sie beteuerte wieder einmal quasi ewige Unterstützung für die ukrainische Kriegsführung. Ihr Pendant in der NATO, Generalsekretär Mark Rutte, wurde da vor kurzem schon deutlicher: Die NATO-Staaten müssten ihre Sozialausgaben zurückschrauben, um die Rüstungsbudgets erhöhen zu können. Wie lange man die EU-Komissionspräsidentin und ihre russophope Außenkomissarin Kaja Kallas in Kiew noch mit Bussi-Bussi empfangen wird, wird die Zeit zeigen. Sie hatte der Ukraine den baldigen EU-Beitritt in Aussicht gestellt, den es zumindest in den nächsten zehn Jahren nicht geben wird (falls es dann noch die EU gibt). Selenskyj träumt immer noch vom NATO-Beitritt, den es auch nicht geben wird. Dafür wird es russische Bedingungen in den Friedensverhandlungen geben. Der aktuelle Kriegsverlauf spricht nicht dafür, dass die Ukraine in einer starken Verhandlungsposition sein wird. Die formelle Neutralität des Staates, der die Rest-Ukraine bilden wird, wird zu den unverrückbaren Forderungen Moskaus zählen. 

Als die Ukraine sich als eigenständiger Staat nach dem Sieg der Konterrevolution in der Sowjetunion konstituierte, hatte sie mehr als 50 Millionen Einwohner und alle Möglichkeiten, sich zu einem prosperierenden Gemeinwesen zu entwickeln. Aus der Sowjetunion erbte man eine solide Industrie, es gibt fruchtbare Schwarzböden, die Schulden der UdSSR übernahm Russland als Rechtsnachfolger, man hatte also ideale Startbedingungen. 

Seither verteilten Oligarchen den Besitz des Volkes unter sich, der Westen unternahm mehrere Umsturzversuche. 2014 gelang der Putsch und man wurde zu einem Land, in dem seit 2014 ein Krieg gegen einen Teil der eigenen Bevölkerung geführt wurde. Jahrzehntelang bereiteten die Exilfaschisten in Kanada und anderswo die Banderisierung der Ukraine vor. Seit 2014 sind sie am Ziel. Barbarischer Nationalismus und Faschismus zerstörte den Vielvölkerstaat, etwa ein Drittel der Bevölkerung, das sich als Russen bezeichnet wird seither verfolgt und drangsaliert. Russisch ist verboten, Demnkmäler für Dichter und Befreier vom Faschismus werden abgerissen. Tausende Bandera-Statuen im ganzen land aufgestellt.

Nach elf Jahren Krieg leben Schätzungen zufolge gerade noch 25 Millionen Menschen im Land, und es ist kaputt auf lange Zeit. Endemische Korruption und eine politische Kaste, die in die eigenen Taschen wirtschaftet werden das Land noch weiter nach unten ziehen. Retten könnte es eigentlich nur eine Revolution, die den einfachen Menschen zur Macht verhilft und das ganze Oligarchen- und Heuschreckengesindel vertreibt.

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